: „Die türkische Nation ist schuldig“
Symposium über den Völkermord an den Armeniern vor achtzig Jahren / Ein türkischer Wissenschaftler äußert sich erstmals öffentlich zur Verantwortung seines Landes ■ Aus Jerewan Jürgen Gottschlich
Der Mann verschwindet fast hinter dem Rednerpult. Gerade der Kopf ist neben den Mikrofonen noch zu erkennen, als Taner Akcam zu den entscheidenden letzten Sätzen anhebt. Im Saal, in dem etwa 300 bis 400 Personen versammelt sind, wird es völlig still. Nicht ein Nebengeräusch unterbricht Akcam, als er, etwas hastig, aber doch für jeden klar und deutlich, auf Türkisch sagt: „Wir sind schuldig, die türkische Nation ist schuldig. Ich bin zwar nicht persönlich für den Völkermord verantwortlich, aber meine Verantwortung besteht darin, die Konsequenzen daraus zu ziehen und für demokratische Verhältnisse in der Türkei zu kämpfen.“
Die Simultanübersetzung ist noch längst nicht zu Ende, da bricht im Saal bereits der Beifall aus. Offenbar haben viele die türkischen Sätze auch so verstanden. Im Handumdrehen ist Akcam von einer Traube älterer Herren umringt, die ihm alle unbedingt die Hand geben wollen, unbedingt persönlich zum Ausdruck bringen wollen, wie lange sie auf eine solche Gelegenheit gewartet haben.
Die Szene spielte sich am letzten Sonntag im großen Saal der Akademie der Wissenschaften in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens, ab. Alle, der Redner wie auch der letzte der Zuhörer, wußten, daß dies ein historischer Moment ist, ein Moment, der vielleicht den Beginn einer neuen Ära ankündigt. Zweieinhalb Tage redeten Historiker, Soziologen und Kulturanthropologen aus den USA, Rußland, Europa und Armenien über die Vernichtung der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 bis 1917. Sie waren zusammengekommen auf Einladung der armenischen Akademie der Wissenschaften, um anläßlich des 80. Jahrestages des Beginns des Völkermordes die Erinnerung an den Genozid zu vertiefen und Forschungsergebnisse auszutauschen.
Gleichzeitig hatte der Kongreß aber auch einen hohen politischen Symbolwert. Der Völkermord von 1915 ist eines der konstituierenden Elemente der neuen Republik Armenien, die 1991 formell ihre Unabhängigkeit erlangte. Die Republik sieht es, ähnlich wie Israel, als ihre erste Pflicht an, diese Unabhängigkeit zu bewahren, um eine Wiederholung des Völkermordes unmöglich zu machen.
Zweieinhalb Tage wurde in Jerewan teilweise heftig diskutiert, und doch warteten die meisten auf den Auftritt, der dann fast am Ende der Veranstaltung stattfand, den Moment, wo zum ersten Mal nach 80 Jahren ein türkischer Wissenschaftler öffentlich in Armenien erklärt: „Wir sind schuldig.“ Bisher haben nicht nur die türkischen Politiker ausnahmslos bestritten, daß es während des Ersten Weltkriegs in der Türkei einen Völkermord gegeben hat, sondern auch türkische Historiker sind in Scharen damit beschäftigt zu beweisen, daß der Genozid nie stattgefunden hat. Warum ist das so? Warum tut sich die türkische Republik, die erst sechs Jahre nach dem Völkermord als Ergebnis eines Befreiungskrieges gegen die Besatzungsmächte gegründet wurde, so schwer damit, anzuerkennen, daß im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs zwischen 600.000 und 1,5 Millionen Armenier getötet wurden, die Armenier in den Grenzen des Reiches praktisch ausgerottet wurden?
Taner Akcam bemühte sich um eine Erklärung. Nicht um Schuld zu relativieren, sondern um einen historischen Prozeß zu analysieren, der bis heute die Beziehungen der Staaten und Menschen in der Region auf das schwerste belastet. Aus seiner Sicht sind drei Faktoren entscheidend für die Haltung der Türkei: Die Gründer der Republik um Mustafa Kemal (Atatürk) versuchten 1928, die Türkei neu zu erfinden. Die Türkei sollte als moderner, westlich ausgerichteter Nationalstaat alle Verbindungen zum Osmanischen Reich radikal kappen. Die Kemalisten führten eine neue Sprache ein, schafften das Kalifat ab und setzten den laizistischen Staat durch, sie führten eine staatlich organisierte Wirtschaft ein, und sie arrangierten sich mit der neu entstandenen Sowjetunion in der Frage der früheren armenischen Gebiete. Der neue Staat sollte nicht mit der Auseinandersetzung um den Völkermord belastet werden.
Es ging aber nicht nur um das staatliche Image. Zwischen den Führern der Ittihad, der sogenannten Jungtürken, die in den entscheidenden Jahren 1913 bis 1918 die Türkei diktatorisch regierten, und der Führungselite der Kemalisten in den zwanziger Jahren gab es erhebliche personelle Kontinuitäten. Diese betreffen auch so entscheidende Leute wie Ismet Inönü, den Stellvertreter Atatürks und Vater des jetzigen türkischen Außenministers, der in der Teskilat i Mahsusa, der Terrororganisation der Ittihad, eine führende Rolle spielte. Zuzugeben, daß diese Männer an Organisation und Durchführung des Völkermordes beteiligt waren, hieße, die politischen Denkmäler der Türkei zu erschüttern.
Doch selbst wenn diese beiden Faktoren im Laufe der letzten 80 Jahre in der Türkei an Bedeutung verloren haben, bleibt auch für die jetzige türkische Staatsführung ein entscheidendes Argument, die Verantwortung für den Völkermord weiterhin zu bestreiten: Die Angst vor einer neuen Grenzdebatte, die Angst, daß Armenien nach einer Anerkennung türkischer Schuld Gebietsforderungen hinsichtlich des früheren armenischen Siedlungsgebiets stellt.
Eindringlich versuchte Akcam seinen Zuhörern klarzumachen, daß es auch Sache der Armenier sei, der Türkei diese Angst zu nehmen, die die türkischen Eliten seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches traumatisiert. Die Grenze, so Taner Akcam, dürfe nicht in Frage gestellt werden, „das ist die Voraussetzung, um miteinander ins Gespräch zu kommen“.
Diese Forderung trifft einen wunden Punkt in der armenischen Innenpolitik, der sich auch während des Kongresses unterschwellig bemerkbar machte. Vor einigen Wochen hat die armenische Regierung die größte Oppositionspartei, die Daschnaken, vorübergehend verboten. Für die Anhänger der Partei ist dies ein klares Signal an die türkische Regierung, da die Daschnaken die härtesten Verfechter eines Großarmeniens sind, das weite Teile der heutigen Osttürkei mit einschließt. Nach Auffassung der Daschnaken muß sich die türkische Regierung sowohl zu ihrer Schuld bekennen und Wiedergutmachung leisten als auch die früheren armenischen Siedlungsgebiete an Armenien abtreten, bevor zwischen beiden Staaten normale Beziehungen aufgenommen werden können. Die Regierung in Jerewan geht da wesentlich pragmatischer vor. Die Blockade Armeniens durch Aserbaidschan im Osten und die Türkei im Westen ist für die Entwicklung des Landes auf Dauer tödlich. Deswegen suchen Präsident Lewon Ter-Petrosjan und seine Berater seit längerem nach Wegen, mit der Türkei wieder ins Gespräch zu kommen.
Als Architekt für einen pragmatischen Ausgleich mit Ankara, in dem die Schuldfrage nicht am Anfang, sondern am Ende des Prozesses steht, gilt in Jerewan der aus den USA stammende Berater Petrosjans, Gerayer Libaridian, der nicht ganz zufällig auch auf dem internationalen Kongreß zum Jahrestag des Völkermordes die Regie führte.
Gleich zu Beginn des Kongresses hatte Ter-Petrosjan in seiner Begrüßungsansprache den Unwillen etlicher Teilnehmer ausgelöst, weil er sich zu deutlich für einen Ausgleich mit der Türkei aussprach. „Selbst in Armenien“, konterte Richard Hovannisian, ein bekannter US-amerikanischer Historiker armenischer Abstammung, „gibt es Leute, die die Erinnerung an den Genozid für politische und ökonomische Beziehungen zurückstellen wollen. Das dürfen wir nicht zulassen. Unsere Aufgabe ist der Kampf gegen das Vergessen.“ Die Erbitterung, mit der diese Auseinandersetzung teilweise geführt wird, erklärt sich auch aus der aktuellen Gerüchteküche in Jerewan. Angeblich steht ein entscheidender Durchbruch in den Beziehungen mit der Türkei kurz bevor. Angeblich kommt die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller nach Jerewan, um über die Aufhebung der Blockade im Tausch gegen die armenische Zustimmung zu einer Ölpipeline aus Aserbaidschan in die Türkei durch Armenien zu verhandeln. Tatsächlich hat die Regierung in Ankara vor wenigen Tagen den türkischen Luftraum für armenische Flugzeuge wieder freigegeben, und tatsächlich wird über eine Landeerlaubnis für Armenian Airlines in Ankara verhandelt. Tatsächlich hat sich die US-Regierung in Armenien für die Pipeline stark gemacht, und das ist, da die Führung des westlichen Ölkonsortiums, das im Kaspischen Meer bohren will, bei den USA liegt, sicher kein geringer Faktor. Selbst iranische Quellen in Jerewan sprechen davon, daß eine Einigung in der Pipeline-Frage unmittelbar bevorstehe und damit auch ein Ausgleich mit Aserbaidschan zu erwarten sei.
Ohne die Dinge offen beim Namen zu nennen, warb Präsidentenberater Libaridian auf dem Kongreß eindringlich für seine und Ter-Petrosjans Linie: „Die Regierung hat eine Verantwortung für die Opfer des Völkermordes, aber sie ist auch verantwortlich für das Überleben der Armenier heute. Wenn eine Mutter mit zwei Kindern in der Wüste steht und eins der Kinder stirbt, ist es nicht ihre erste Aufgabe, für das Überleben des zweiten Kindes zu sorgen?“
So war für Libaridian auch der Auftritt Taner Akcams ein erstes Ergebnis seiner Annäherungspolitik – eine Interpretation, die bei Akcam allerdings nur Kopfschütteln hervorrufen konnte. Kaum einer der Gratulanten, die ihm nach seinem Auftritt die Hand schüttelten und ihn zu seiner Courage beglückwünschten, weiß, welchen Mut diese Ein-Mann-Demonstration in Jerewan erforderte. Tatsächlich ist Taner Akcam ohne jegliche Rückendeckung der türkischen Regierung nach Jerewan gekommen, und es ist höchst unklar, wie die türkische Regierung und auch die türkische Rechte auf diese Nestbeschmutzung reagieren werden. Akcam, der 1976 als politischer Flüchtling nach Deutschland kam, kann erst seit zwei, drei Jahren wieder in die Türkei einreisen, ohne gleich verhaftet zu werden. Zur Zeit plant er seine Übersiedlung von Hamburg nach Istanbul, um dort ein unabhängiges Dokumentationszentrum für türkische Geschichte aufzubauen.
Er kann nur hoffen, daß sein Auftritt in Jerewan unter seinen türkischen Kollegen etwas bewegt und das Tabu, in der türkischen Öffentlichkeit über den Völkermord an den Armeniern zu reden, endlich auch von mehr Leuten durchbrochen wird. Eine Demokratisierung der Türkei, das ist seine feste Überzeugung, ist mit einer Million Leichen im Keller nicht möglich.
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