: „Was tut man mit der Freiheit?“
■ Für viele Überlebende der nationalsozialistischen KZs änderte die Befreiung durch die Alliierten zunächst kaum etwas
Am 15. April 1945 wurden die Häftlinge des KZs Bergen-Belsen von englischen Truppen befreit. Überlebende Zwangsarbeiterinnen, die als junge Mädchen aus ihrer Heimat von den Nazis verschleppt worden waren, erzählten der taz, wie sie die letzten Tage als Gefangene und ihre ersten Tage in neuer Freiheit erlebt haben. Alisa Feigenbaum, 70 Jahre alt, ist in der Tschechoslowakei geboren. Ayala Mendlovitz, 65 Jahre alt, kommt aus Polen. Gizella Naar, 69 Jahre alt, ist Ungarin. Heute leben alle drei Frauen in Israel. Sie verbrachten im Sommer 1944 knapp zwei Monate im KZ von Auschwitz und wurden im August 1944 nach Bremen deportiert. Sie überlebten die Zwangsarbeit im KZ-Außenlager Stuhr-Obernheide und die beiden letzten Wochen in Bergen-Belsen.
taz: Was ist am Tag Ihrer Befreiung geschehen?
Alisa Feigenbaum: Die Engländer waren hilflos, sie waren nicht auf so etwas vorbereitet. Sie waren darauf vorbereitet zu kämpfen, aber nicht auf so eine Masse von Toten und Halbtoten. Wahnsinnig viele von uns sind bis zum 15. April gestorben und danach ging das Sterben weiter. Wir hatten alle Thyphus und waren völlig entkräftet. In den letzten Tagen in Bergen-Belsen, da habe ich so nachgedacht. Das Ende des Krieges war so ein schwarzer, dicker Vorhang. Ich habe gedacht, wenn Hitler gewinnt, dann bleiben wir in Bergen-Belsen und sterben hier. Aber wenn er verliert, oder noch die Zeit hat, uns alle zu vernichten?
Ayala Mendlovitz: Es ist ein Panzer durch das Lager gefahren und die Soldaten haben auf mehrere Sprachen gesagt, daß wir jetzt befreit seien. Aber es gab gar keine Reaktion von uns.
Alisa Feigenbaum: Ich kann mich noch daran erinnern, daß ich am Abend vorher mit meiner Mutter draußen gesessen habe. Wir haben überlegt: Wenn wir hier die ganze Nacht draußen bleiben, dann bekommen wir garantiert eine Lungenentzündung, wenn wir in das Gebäude gehen, dann bekommen wir vielleicht Läuse und Thyphus. Da haben wir gesagt: Thyphus eventuell, aber Lungenentzündung auf jeden Fall. Also sind wir herein gegangen, und wir haben tatsächlich Thyphus bekommen. Meine Mutter war sehr krank, ich auch, aber ich war nicht im Spital in Bergen-Belsen.
Wie haben sich die Lagersoldaten verhalten?
Ayala Mendlovitz: Man hat die nicht gesehen, die waren die ganze Zeit nur auf ihren Wachtürmen, aber nicht mehr im Lager.
Alisa Feigenbaum: Zwei oder drei Tage vor der Befreiung haben wir schon etwas geahnt, weil die Deutschen gegangen sind und wir von ungarischen Soldaten bewacht wurden. Wir haben schon etwas gefühlt. Am 15. April sind die Panzer ins Lager gekommen, und die Soldaten haben gerufen: Ihr seid befreit, ihr seid befreit, ihr seid befreit! Wir wußten nicht, welcher Tag es war und auch nicht, wie spät es war.
Hat sich danach an ihrem Tagesablauf irgendetwas verändert?
Alisa Feigenbaum: Nein, es war weiter sehr, sehr schrecklich, weil die Engländer nicht vorbereitet waren auf so viele Tote. Das war auch für sie eine schreckliche Sache. Später, so nach zwei, drei Wochen ging es dann. Schauen Sie, wenn man nach so vielen Jahren dann plötzlich befreit ist...Gut wir sind frei, aber was wir davon haben, wie wir weiterleben sollten, das wußten wir nicht. Wie würde es weitergehen? Vorher war klar: Wir bleiben da, wir arbeiten. Aber was beginnt man mit der Freiheit? Es hat lange gedauert, bis wir wirklich verstanden haben, daß wir frei sind, daß wir befreit sind.
Wie lange sind Sie noch im Lager geblieben?
Alisa Feigenbaum: Da kann ich mich nicht erinnern, ein paar Tage glaube ich.
Gizella Naar: Später hat man das ganze Lager abgebrannt.
Alisa Feigenbaum: Ja, das stimmt. Wegen der Seuchengefahr. Nach ein paar Tagen wurden wir in die Kaserne von Bergen gebracht. Diese Kaserne, das war fast wie eine Stadt. Nach der Befreiung habe ich die Bekanntschaft gemacht mit einer deutschen Zigeunerin, die auch in Bergen-Belsen war, zusammen mit ihr bin ich dann ab und zu nach Celle gefahren...gegangen? Auch daran kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Und auch wie weit das war, weiß ich nicht mehr. Nach dem Thyphus, da hatte ich so ein komisches Gefühl, ich wußte nicht mehr: träume ich das, oder ist das die Wahrheit. Ich hatte so ein komisches Gefühl.
Ayala Mendlovitz: Die Soldaten haben Bananen und Schokolade über den Zaun geworfen für uns. Aber das hat uns gar nicht gut getan, denn wir hatten so lange nichts mehr gegessen und haben das nicht gut vertragen. Ich habe immer noch Probleme mit meinem Magen.
Alisa Feigenbaum: Stimmt, sie konnten uns keine richtige Verpflegung geben. Sie haben die deutschen Lager aufgemacht und dort Konservendosen gefunden mit fettem Fleisch. Und das hat man uns gegeben, das hat sehr vielen von uns dann den Rest gegeben.
Daran sind dann auch nochmal Menschen gestorben?
Alisa Feigenbaum: Ich weiß nicht, ob genau daran. Aber wenn man ein Jahr lang nichts Richtiges gegessen hat, dann verträgt man das nicht, aber die Engländer wußten nicht, was sie uns geben sollten.
Wie lange waren Sie noch in Bergen?
Alisa Feigenbaum: Wir waren noch bis Ende August dort, wir sind dann in die Slowakei zurückgefahren. Damals ist der erste Transport in die Slowakei gefahren. Fragen: Elke Gundel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen