: Grundrechte zwischenlagern
Eine erste Bilanz zehn Tage nach dem Castor-Transport: Bis jetzt 250 Anzeigen / Zeugen kritisieren das brutale Vorgehen von Polizeieinheiten ■ Von Reiner Metzger
Berlin (taz) – Der hünenhafte Polizist wirft den Jugendlichen über den gut einen Meter breiten Straßengraben, springt hinterher und landet mit dem Stiefel auf dem Kopf des Demonstranten. Ein Stück weiter steigt ein grün Uniformierter aus Berlin auf einen Trekker, der die Straße blockiert, nimmt den Fahrer in den Schwitzkasten; sein Kollege verdreht ihm die Füße, bis es knackt.
Die Trecker werden auf den Acker geschoben, Diesel und Motoröl werden einfach auf die Erde abgelassen. Jagdszenen vom Castor-Transport zwischen Dannenberg und Gorleben, von Zeugen beobachtet.
„Solche Taten sind nach Paragraph 340 des Strafgesetzbuches Körperverletzung im Amt“, sagt Jens-Peter Gieschen. Der Rechtsanwalt war einer von zehn Beobachtern des Komitees für Grundrechte und Demokratie, die den Castor-Transport im Wendland protokollierten. Das Strafmaß für einen Beamten bei einer Verurteilung liegt zwischen drei Monaten und fünf Jahren Haft. „Aber ich würde mit allen Mandanten sehr genau besprechen, ob sie einen Polizisten in einem solchen Fall verklagen“, warnt Gieschen. Der Beweis sei vor Gericht sehr schwer zu führen. Außerdem erfolgt in der Regel sofort eine Gegenanzeige an den Kläger wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte – schließlich hat er mit seiner Anzeige bewiesen, daß er vor Ort war.
Bei der eigens für Castor-Belange gegründeten Ermittlungsgruppe 4/94 in Lüchow gingen bis gestern etwa 250 Anzeigen ein, davon drei gegen Polizisten. Das niedersächsische Innenministerium hat einen Fragebogen an die beteiligten Einsatzkräfte versandt, in denen sie ihre Beobachtungen schildern sollen, auch Sachbeschädigungen und Körperverletzungen von Kollegen. „Die meisten bummeln jedoch erst einmal die vielen Überstunden ab. Die Ergebnisse des Fragebogens werden erst in ein paar Wochen vorliegen“, sagte gestern ein Sprecher des Innenministeriums.
Brutal haben sich nach Zeugenaussagen die Einsatzkommandos aus Berlin aufgeführt. Ob Demonstranten durch Kinnhaken k.o. geschlagen oder bereits am Boden Liegende getreten wurden – der Sprecher des Berliner Innensenators, Thomas Raabe, wußte gestern nicht, daß seine Beamten öfter ausgetickt sind: „Völlig neu für uns, diese Information.“
Sie decken sich jedoch mit einem ersten Gorleben-Bericht des Komitees für Grundrechte. Dort steht, daß Gewalt hintergründig allein von den staatlich-kommunalen Behörden ausging. Der Einsatzleitung wirft die Kölner Gruppe vor, willkürlich gehandelt zu haben. Auch die „pauschalen Gefahrvermutungen“, mit denen das allgemeine Versammlungsverbot entlang der Transportstrecke begründet wurde, hätten in keinem Fall ausgereicht. Einige Grundrechte seien so ohne Not erheblich beschädigt worden.
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