: „Tollhaus-Stück“
Nach der Entlarvung des Altrektors als SS-Offizier herrschen Intrigen an der TH Aachen ■ Aus Aachen Bernd Müllender
Ein Sumpf tut sich auf aus Erpressung, Dementis und Intrigen. Wie in einem schmutzigem Agentenfilm. Hauptdarsteller: eine Riege hochehrenwerter Professoren. Tatort: die Technische Hochschule (TH) Aachen.
Vor gut einer Woche war herausgekommen: Ausgerechnet der überaus beliebte, als linksliberal und dezidiert antifaschistisch geltende Altrektor der TH und renommierte Literaturprofessor Hans Schwerte war in Wahrheit: SS-Hauptsturmführer Dr. Hans- Ernst Schneider, tätig im SS- Verbrecheramt „Ahnenerbe“ und aktenkundig zum Persönlichen Stab des Reichsführers SS Heinrich Himmler gehörig. Gleich nach 1945 hatte er eine zweite Identität mit Geburtsort Hildesheim angenommen, seine eigene Scheinwitwe erneut geehelicht (siehe taz vom 2. 5.) und 50 Jahre lang unbehelligt gelebt, geforscht, gelehrt.
Groß ist der Verdacht, daß nicht wenige etwas wußten, das Nazi- Kuckucksei im Hochschulnest deckten und in seinem Fahrwasser nach oben gespült wurden.
Gewußt hat aber angeblich wieder einmal niemand etwas. Die aktuelle Verteidigungslinie von Philosophischer Fakultät und Hochschulleitung lautet: Es gab Gerüchte seit einem Jahr, aber sie waren so ungeheuerlich, daß wir sie nicht glauben wollten. Im Frühsommer 1994 erst sei der Echtname Schneider aufgetaucht. Es folgten dilettantische Rechercheversuche. Die TH fragte NS-Archive ab, doch allein nach dem Namen Hans Schwerte, der erst 1945 erfunden wurde. Das Ergebnis war logischerweise negativ.
Heute sagt der blamierte Rektor kleinlaut: „Wir sind vorgeführt worden“, das sei schon „ein Stück aus dem Tollhaus“ gewesen. Damals war man mit der Rolle der Hilflosen zufrieden. Kein Nachfragen, kein kurzer Dienstweg – nichts. Und bei Schwerte, der heute 85jährig in Bayern wohnt, anrufen – darauf kam niemand.
Als hingegen die studentische Fachschaft Philosophie viel später in Hildesheim anrief, bekam sie am Telefon prompt die Auskunft: Schwerte unbekannt.
Seit Donnerstag bekennen sich zwei Germanistikprofessoren dazu, vom Namen Hans-Ernst Schneider seit mindestens zwei Jahren zu wissen. Und: Es werde doch schon lange über das „E.- Schneider-Institut“ in Aachen gespottet. Setzt solcher Spott nicht hinreichend Wissen voraus?
Gedächtnislücken gibt es auch aktuell. Der Rektor sagte Dienstag noch, er habe im Sommer seine Dienstherrin, Bildungsministerin Anke Brunn (SPD), mündlich unterrichtet. Brunn dementierte energisch. Jetzt korrigierte er sich, es sei Monate später gewesen. Im Ministerium begann im November ein Ministerialbeamter, sich in die Thematik Ahnenerbe einzuarbeiten. Ohne Ergebnis; was die Ministerin „nicht schleppend“ findet, denn: die TH habe ja auch nichts herausbekommen.
Und es gibt Gedächtnislücken in der SPD-Landesregierung. Johannes Rau wollte Schwerte zunächst aus höchstens drei Briefwechseln kennen. Jetzt mußte er eingestehen, daß er mit Schwerte immerhin einmal auf Besuch bei Königin Beatrix in den Niederlanden war. Rau hatte den ehemals in Holland stationierten SS-Mann Schneider im Jahre 1972 als Hans Schwerte zum Benelux-Landesbeauftragten für Hochschulkooperation gemacht. Herbert Schnoor, heute Innenminister, war damals Staatssekretär bei Rau und mit Schwerte befreundet. Er ist mit dem SS-Führer mehrfach in den Urlaub gefahren. Das alles müßte doch ein gefundenes Fressen mitten im Landtagswahlkampf sein – doch die CDU bleibt stumm. Weil unter ihrer Ägide Schwerte 1965 nach Aachen kam?
Anfang 1994 hatte der Dekan „Indizien für eine versuchte Erpressung“ ausgemacht, durch seinen gerade emeritierten Professorenkollegen Hugo Dyserinck. Der wird von den TH-Oberen jetzt als Bauernopfer aufgebaut. Er kam kurz nach Schneider wie dieser von der Uni Erlangen nach Aachen, wo ihm prompt ein neuer Lehrstuhl eingerichtet wurde. Naheliegender Verdacht: Dyserinck hat Schwerte schon damals erpreßt. Was beide bestreiten. Schneider gibt zu, damals erkannt worden zu sein. Er sagt nur nicht von wem.
Dyserinck gibt an, 1992 durch einen Zufallsfund in der Literatur und Fotovergleich Schneider erkannt zu haben. Aber er habe alles als eher unerheblich für sich behalten. Nie habe er Gerüchte an der TH gestreut. Interessierte Kreise wollten ihn jetzt durch das Gerüchte-Gerücht diskreditieren. Zumindest scheint Dyserinck Dyserinck zu sein. Die Stadt Brügge bestätigte der taz, daß der Mann dort tatsächlich 1927 als Hugo Dyserinck geboren ist.
Schneider hat seine Doppelrolle zugegeben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob er aktiver Mithelfer an den bestialischen Versuchen und Morden an KZ-Häftlingen durch perverse „Ahnenerbe“-Kollegen war. Die Mitwisser an der TH sind noch unentdeckt.
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