piwik no script img

Die Transzendenz des Klopses

■ Berlin: Von den DT-Kammerspielen wurde „Herr Paul“ von Tankred Dorst ausgewählt – eine mittelmäßige Inszenierung um den großartigen Kurt Böwe

Ein Schmerbauch wie eine Siegesfahne. Der ihn vor sich herträgt, hat ihn der Gesellschaft abgetrotzt, dem Zwang zur Agilität, zur Gesundheit. Er hätte jeden Beruf ergreifen können und hat einfach nein gesagt und sich aufs Sofa gelegt, und da liegt er. Nützlichkeit hat er nicht nötig, er ißt, was er kriegen kann, schont seine Füße, philosophiert, wenn es sein muß – und stört.

„Wer lebt, stört“, sagt Herr Paul und geht zur Türe hinaus. Zurück läßt er Helm und Lilo. Helm, der die stillgelegte Seifenfabrik geerbt hat, die einst Pauls Vater gehörte und in der Paul mit seiner Schwester notdürftig haust. Helm will eine Großwäscherei daraus machen, dazu müssen Paul und seine Schwester Luise ins Vorderhaus umziehen. Aber sie wollen nicht. Paul geht. Aber nicht weit, er kommt wieder. Helm schlägt mit dem Beil auf ihn ein. Paul steht wieder auf. Und bleibt.

Am Ende von Tankred Dorsts Stück steht ein Ausrufezeichen. Es müßte ein Gedankenstrich sein: Paul schläft, Luise hört sich eine Arie an und Helm ist nicht weiter als zuvor. Paul ist der nicht wegzuorganisierende Rest in der Geschichte, ein Fragezeichen hinter jedem Muß.

Michael Gruner inszenierte dieses Oblomow-Stück in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Kurt Böwe spielt den Paul, eine erstklassige Besetzung. Er hat die komische Gelassenheit desjenigen, der aus Überdruß wieder naiv geworden ist. Über den fetten Backen blinzeln seine Augen mit müder List und Melancholie zugleich. Und wie graziös er seinen massigen Körper bewegt... Hört er wirklich zu, streckt er entzückt ein Bein von sich weg; wenn er über die Bühne läuft, ist es, als schwebe er – die Transzendenz des Klopses. Böwe ist grandios, er trägt die Inszenierung, assistiert von Christine Schorn, die herrlich spätmädchenhaft, kauzig und zerstreut die Schwester Luise spielt.

Daniel Morgenroth als Helm und Petra Hartung als seine Freundin Lilo hingegen sind von der Regie von Anfang an zu hoch angesetzt worden. Helm verzweifelt schon an Paul, noch bevor er ihn überhaupt gesehen hat. Morgenroth ist gekünstelt jovial, mit einem Kick ins Hysterische, man erkennt diesen Schauspieler gar nicht wieder.

Die Figur der Lilo ist eine Grenzgängerin. Auch naiv, aber oberflächlich. Auch mit Herz, aber ein Kind der Schnelligkeit. Petra Hartung macht daraus einen kleinbürgerlichen Nina-Hagen-Verschnitt, sie versucht hölzern und angestrengt, aus dem Rahmen zu fallen. – „Hey, Alter“ mit grünem Samtkleidchen. Das geht in keinem Augenblick auf und enerviert ganz fürchterlich. Udo Kroschwald als Helms zielstrebiger Kompagnon in spe ist hingegen zuverlässig in seiner Charge; überaus glaubwürdig auch Stefanie Stappenbeck als geistig behindertes Mädchen Anita, das mit Paul in einer lüstern liebevollen Verbindung steht.

Michael Gruner ist wohl eher ein Regisseur fürs Episodische, wie man in Horvaáths „Don Juan kommt aus dem Krieg“ im gleichen Haus sehen konnte. Zwischentöne und Entwicklungen scheinen ihm eher fremd zu sein. Da wird mit Hochdruck vom Blatt inszeniert, Geschichten zwischen und hinter den Zeilen gibt es keine. Nur bei Böwe.

Er ist nicht nur der Ostler, der sich bockig dem neuen Hausbesitzer aus dem Westen entgegenstellt, was Gruner mit einer alten Ausgabe der Neuen Zeit andeutet, die er in der Fabriketage von Peter Schulz plaziert hat. Er ist nicht nur ein mahnender Fleck aus der Vergangenheit, nicht nur Opfer, sondern in all seiner Passivität auch aggressiv, ein Kinderfummler und Schwesterparasit. Er ist die Fettzelle im gesellschaftlichen Muskel, gegen ihn hilft keine Diät. Petra Kohse

„Herr Paul“ von Tankred Dorst (Regie: Michael Gruner, Kammerspiele des Deutschen Theaters, 2 Std. 15 Min., m.P.), am 15./16./25.5., 19.30 Uhr, Schumannstraße 13a, Mitte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen