: Einfache Rechnung: Stücke zu Stapeln
■ DramatikerInnen an der Peripherie des Theaterbetriebs: Fast wäre der „Stückemarkt“ gestrichen worden – da sprang „Theater der Zeit“ in die Bresche
Daß es den 68ern nicht gelungen ist, literarische Lesungen ein für allemal abzuschaffen, hält die Autorin Elfriede Jelinek für ein echtes Versagen ihrer Generation. Wollte die Berliner Festspiele GmbH eine versäumte Revolutionierung des Literaturbetriebs nachholen, als sie beschloß, aufgrund der von Bund und Land verordneten Sparmaßnahmen den traditionellen „Stückemarkt“ im Rahmen des Theatertreffens ersatzlos zu streichen?
Gewollt oder ungewollt dokumentiert die Entscheidung den peripheren Status lebender AutorInnen im deutschen Gegenwartstheater, handelt es sich bei dieser unspektakulären Reihe von szenischen Lesungen, die seit 1978 ein fester Bestandteil des Theatertreffens sind, doch immerhin um die einzige regelmäßig stattfindende, überregionale Präsentation und Diskussion neuer Theaterstücke.
Der „Stückemarkt“ bietet die seltene Gelegenheit, Texte kennenzulernen, die ansonsten nur einer kleinen Fachleserschaft zugänglich sind, da nicht uraufgeführte Theaterstücke nur als Bühnenmanuskripte und nicht im Buchhandel erscheinen.
Es gibt etwa 60 Theaterverlage in Deutschland, die jedes Jahr zwischen 150 und 200 neue Stücke zur Ur- und Erstaufführung anbieten. Die potentiellen Abnehmer der Ware Gegenwartsdramatik sind rund 200 Theater (freie Gruppen und Boulevardtheater nicht mitgerechnet). Jedes dieser Häuser bringt im Schnitt pro Spielzeit drei Stücke lebender deutsch- und fremdsprachiger AutorInnen heraus. Ein einfaches Rechenexempel, dessen Ergebnis nur einen Schluß zuläßt: Der größte Teil neuer Theaterstücke – zumindest von AutorInnen, die nicht den Bekanntheitsgrad eines Kroetz, Strauß oder einer Jelinek (die übrigens beim ersten Stückemarkt 1978 als Theaterautorin debütierte) haben – werden geschrieben, um sich zu ungelesenen Papierstapeln auf DramaturgInnen- Schreibtischen aufzuhäufen.
So jedenfalls beschreiben die VertreterInnen dieses Berufsstandes gerne ihren Arbeitsplatz. An der chronisch schwierigen Arbeitssituation für lebende AutorInnen kann der „Stückemarkt“ nichts grundlegend ändern. Aber ausgerechnet zu jenem Fest, bei dem sich die „reichste Theaterlandschaft der Welt“ mit ihren bemerkenswertesten Inszenierungen feiert, die AutorInnen auszuladen – das ist empörend.
So jedenfalls reagierte die Redaktion von Theater der Zeit und empfand dringenden Handlungsbedarf, als sie im Februar von dem Streichungsbeschluß aus der Zeitung erfuhr. Spontan wurde der Leitung des Theatertreffens angeboten, die Durchführung des Stückemarkts zu organisieren. Die wichtigste Unterstützung für dieses Projekt kommt von der Stiftung Kulturfonds, die die Honorare der AutorInnen und Lesenden finanziert, und vom Deutschen Theater, das Räume und technische Betreuung für die Lesungen bereitstellt.
Die Auswahl der Stücke mußte in relativ kurzer Zeit stattfinden. Das war nur möglich, weil die Redaktion von Theater der Zeit sowieso ständig auf der Suche nach neuen Stücken für den Abdruck ist und daher direkte Kontakte zu Bühnenverlagen und Autoren hat. In vier Wochen lasen sich Martin Linzer und Harald Müller – Herausgeber und Geschäftsführer von Theater der Zeit – durch die Angebote. Anders als Klaus Völker, der seit 1986 den „Stückemarkt“ leitete, ging es ihnen bei ihrer Auswahl nicht in erster Linie darum, neue AutorInnen zu „entdecken“, was in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur Zufallsentscheidungen zugelassen hätte. Sie waren vor allem auf der Suche nach Stücken, in denen AutorInnen Gegenwartsstoffe bearbeiten und gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren.
Herausgekommen ist eine Auswahl teilweise erst Anfang Mai fertiggestellter Stücke von AutorInnen, die bis auf eine Ausnahme langjährige Theatererfahrung auch als RegisseurInnen oder SchauspielerInnen vorzuweisen haben. Einar Schleefs Stück „Lange Nacht“ zum Untergang der DDR beschreibt das Zusammentreffen eines republikflüchtigen Sohns mit seiner Mutter, das erst durch den Fall der Mauer möglich wurde. (13. 5., 16 Uhr, Deutsches Theater, Rangfoyer). Jörg Michael Koerbl hat mit „Kamerad H.“ den Fall des jungen Neonazis Ingo Hasselbach und seines Ausstiegs aus der rechten Szene dramatisiert. (14. 5., 16 Uhr, DT-Baracke). Anna Langhoff untersucht in ihrem Stück „Schmidt Deutschland“ am ebenfalls authentischen Fall eines Sexualstraftäters, des sogenannten Beelitz- Mörders, psychische und soziale Deformierungen im Nachwende- Osten (20. 5., 16 Uhr, DT, Rangfoyer). Wolfgang Maria Bauers neues Stück „Der Schatten eines Fluges“ spielt in Bayern um 1900 und erzählt die (Außenseiter-)Geschichte des öffentlich hingerichteten Matthias Kneil (21. 5., 16 Uhr, DT, Rangfoyer). „Die Fürsprecher“ ist das dramatische Debüt der Autorin Angelika Klüssendorf. Im Untertitel als „Lustspiel“ bezeichnet, rechnet der Text auf ironische Weise mit der Borniertheit der Protagonisten des deutschen Kunst- und Literaturbetriebs ab (25. 5., 16 Uhr, DT, Rangfoyer).
Nicht zuletzt die begeisterte Bereitschaft der SchauspielerInnen, überwiegend aus dem Ensemble des Deutschen Theaters, sich für die Lesungen zur Verfügung zu stellen, rechtfertigt die konzertierte „Rettungsaktion“ und verspricht einiges Vergnügen für das Publikum. Kathrin Tiedemann
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