: Als das Virus kam, war Meinrad Koch 51 Jahre alt und hatte noch nie eine Schwulen-Bar von innen gesehen. Das sollte sich ändern. Der Virologe und spätere Chef des Aidszentrums tingelte nachts durch die Szene, erkundete die Lebenswelt seiner Hauptrisikogruppe – „ein riesiger Lernprozeß“. Kochs Gegenspieler Peter Gauweiler funkte derweil düstere Aussonderungsphantasien aus seinem Bunker. Der große Streit um die Aidspolitik begann. Zu seiner Pensionierung ein
Interview
mit Meinrad Koch – Rückschau auf 14 Jahre Aidsgeschichte. Von Manfred Kriener
„Nein – wir werden Aids nicht besiegen“
Der Lotse geht von Bord. Er geht sehr leise. Schmerzt es Sie, daß der oberste Aidsbekämpfer der Republik nicht mit größerem Bahnhof verabschiedet wird?
Meinrad Koch: Ich habe mir das genau so gewünscht.
Es gibt immerhin Leute, die behaupten, daß Sie zu der Handvoll Personen gehören, die schuld sind, daß sich in Deutschland in Sachen Aids die gesellschaftliche Restvernunft durchgesetzt hat und nicht der Herr Gauweiler mit seiner Verfolgungsneurose.
Wenn Sie heute das Problem Aids auf europäischer Ebene betrachten oder im Weltmaßstab, dann stellen Sie fest, daß sich die Gauweilers nirgends durchgesetzt haben. Das war nicht das Verdienst bestimmter Personen, auch nicht meiner Person. Das war schlicht der Konsens der Einsichtigen. Eine Aidspolitik à la Fidel Castro1 wäre niemals durchsetzbar gewesen, nirgendwo in Europa. Und es bestand ja objektiv auch keine Notwendigkeit dafür.
In den turbulenten Jahren 1987 und 1988 standen die Dinge auf der Kippe. Damals sollen im Süssmuth-Ministerium fast täglich wütende Faxe aus München eingetroffen sein, und die Dame des Hauses soll in ihrem liberalen Kurs kräftig „gewackelt“ haben. Sie bedurfte massiven Zuspruchs, um nicht einzuknicken.
Ich habe das schon damals sehr unaufgeregt gesehen. Aber man sollte diesen Streit, der übrigens in vielen Ländern der Welt stattgefunden hat, nicht immer auf die Formel „Süssmuth gegen Gauweiler“ reduzieren. Statt Gauweiler können Sie genausogut den Spiegel nehmen. Die Gefahr, daß sich diese Hardliner durchsetzen, hat nie ernsthaft bestanden.
Gab es irgendeinen Zeitpunkt, an dem Sie selbst glaubten, Sie müßten schwule Saunen schließen, Massentests anordnen, Infektionsketten aufspüren?
Also wenn ich höre, daß in den Saunen und Darkrooms heute wieder business as usual herrscht, dann läuft es mir kalt den Rücken runter. Aber im Prinzip, und das muß man sich klarmachen, kommt man mit einem repressiven Kurs nicht weiter. Meine Lebenserfahrung sagte mir einfach, daß so was nicht funktioniert. Ein für mich sehr beeindruckendes Beispiel ist die Verfolgung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs durch die katholische Kirche. Ich komme ja aus einer katholischen Ecke. Die Kirche sagt, daß Sie schnurstracks in die Hölle fahren, wenn Sie so was Böses tun. Obwohl das für alle Gläubigen eine vernichtende Drohung ist, hatte diese Drohung zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Erfolg. Genauso unsinnig wäre es, bei Aids mit Strafandrohungen zu operieren oder vor jede Klappe einen Polizisten zu stellen. Trotzdem halte ich Darkrooms für problematisch: Die Promiskuität ist nun mal der Motor der Seuche.
Die ungeschützte Promiskuität. Das Kondom ist doch eine zuverlässige Barriere.
Das Kondom ist sehr gut – wenn man es benutzt. Ich habe immer versucht, es gesellschaftsfähig zu machen, und tatsächlich ist der Kondomverbrauch bei uns ja auch angestiegen. In meiner Jugendzeit war das Kondom längst nicht so negativ besetzt, wir mußten alle noch ohne Pille auskommen.
Sie schätzen das Kondom aus eigener Erfahrung?
Es war das wichtigste Verhütungsmittel. Meine Generation hatte da viel weniger Probleme. Unser großer Fehler bei der Präventionskampagne war, daß wir das Kondom viel zu lange mit Aids, Tod und Sterben direkt verknüpft haben. Das ist nicht sehr sexy.
Die Aids-Hilfen machen ihre Kondomkampagne heute lockerer und eher antörnend. Dann kommt einer wie Berlins ehemaliger Innensenator Lummer und schreit, das ist Pornographie und schwule Verführung kleiner Kinder.
Also die Aids-Hilfen machen das richtig, und vielleicht gelingt es, die Zahl der schwulen Männer, die sich neu infizieren, dadurch weiter zu verringern. Jede einzelne Infektion wäre verhinderbar. Das ist das Verrückte an Aids: Es ist eine sehr gefährliche Krankheit, vor der man sich aber sehr leicht schützen kann. Um sich vor Salmonellen zu schützen, müßten Sie ständig einen Autoklaven mit sich führen und jedes Butterbrot keimfrei machen. Bei Aids reicht ein schlichtes Kondom. Wenn es die Leute benutzen, hätten wir die Krankheit längst unter Kontrolle. So oft reißen die Dinger nämlich nicht.
Als vor 13, 14 Jahren die ersten Meldungen aus den USA über diese mysteriöse Schwulenkrankheit „Grid“ kamen, wie man sie anfangs noch nannte, haben Sie damals vor dieser unkontrollierbaren Bedrohung Angst gekriegt?
Ich hatte keine Angst. Ich kannte die Hepatitis B, die genauso wie Aids übertragen wird, aber sehr viel infektiöser ist. Bei Hepatitis B haben wir eine Verbreitung von zirka fünf Prozent. Wenn es also ganz schlimm kommt, sagte ich mir, dann ist das unsere Obergrenze.
Klingt nicht sehr beruhigend ...
In den allerersten Jahren, also 1981 und 1982, hatten wir vermutlich schon deshalb keine Angst, weil wir uns über das wirkliche Ausmaß der Bedrohung nicht im klaren waren. Selbst 1986 haben wir in dem Brief an alle Haushalte noch behauptet, daß von den Infizierten vermutlich nur 20 Prozent wirklich erkranken werden. Das glaubte man damals tatsächlich.
Die Krankheit wurde zuerst unterschätzt und dann Ende der 80er Jahren unter dem Eindruck der Apokalyptiker in ihrem Ansteckungspotential überschätzt.
Unser großer Irrtum war, daß wir glaubten, die ganze Republik sei direkt und indirekt über Sexualkontakte miteinander verknüpft. Der Herr Kriener, der Herr Koch, der Briefträger, alle sind sexuell miteinander verbunden. Wenn man das für bare Münze nimmt, dann ist Aids tatsächlich äußerst bedrohlich. Heute wissen wir, daß die Zahl der promisk lebenden Menschen in allen Bevölkerungsschichten, auch bei den Schwulen, begrenzt ist. Bei den Heteros, davon bin ich zutiefst überzeugt, reicht die Zahl der Promisken in unserem Land nicht aus für einen massiven Einbruch der Epidemie.
Aber Anfang der 80er Jahre mußten Sie doch mit dem Schlimmsten rechnen?
Wenn ich 1981 schon so viel wie heute über Aids gewußt hätte, hätte ich sehr viel schlechter geschlafen. Aber wir wußten viel zu wenig. Hinzu kam ein ganz anderes Problem: Die Infektion spielte sich in einer Gruppe ab, die den Voyeur in jedem von uns kitzelte, die uns aber fremd war. Ich will gar keinen Hehl daraus machen: Damals wußte ich nichts über schwule Männer – außer ein paar mehr oder weniger geistreichen Witzen. Ich kannte keinen einzigen schwulen Mann persönlich.
Sie kannten Aids nur unterm Mikroskop. Wie haben Sie sich als Virologe der sozialen Dimension der Krankheit gestellt?
Es war ein riesiger Lernprozeß und eine hochinteressante Zeit. Zuerst habe ich drei schwule Ärzte eingestellt, das war sehr wichtig. Dann versuchten wir, aus der Kenntnis der Hepatitis B die Konsequenzen zu ziehen. Wir wußten von der Hepatitis, daß schwule Männer, Bluter, Fixer die Krankheit sehr viel häufiger kriegen. Und jetzt ging es darum, die Ausbreitung zu stoppen. Wir haben zunächst alles Mögliche unternommen, um die Leute zu informieren. Im Sommer 1983 haben wir gemeinsam mit anderen Organisationen in die Gedenkbibliothek zum großen Aufklärungsnachmittag eingeladen. Das war ein echtes Erlebnis. Hunderte von Schwulen kamen im Partnerlook. Und ich habe die ersten Ledermänner gesehen. Hinterher saß ich mit Rosa von Praunheim in der Kneipe, damit der mir erklärte, was da am Nachmittag so los war. In dieser Zeit habe ich sehr, sehr viel gelernt.
Sie sind dann schnell mit der schwulen Community aneinandergerasselt.
Die Schwulen waren mittendrin in ihrem Emanzipationsschub. Und dann bin ich gekommen und habe gesagt: Homosexuelle Männer dürfen nicht mehr zum Blutspenden gehen wegen der Infektionsgefahr. Das hat die maßlos geärgert. Aber mein Aufruf war notwendig. Daraufhin haben die Berliner Lederschwulen einen Gegenaufruf gemacht: Schwule, geht massenhaft zum Blutspenden! Zum Glück sind nur wenige diesem Gegenaufruf gefolgt. Unser Dilemma war, daß wir die Schwulen vom Blutspenden ausgrenzen mußten, aber nicht beweisen konnten, warum. Es gab ja noch keinen Test.
Der Antikörpertest kam erst im Herbst 1984.
Das war der Zeitpunkt, als ich es dann wirklich mit der Angst bekam. Wir hatten 1983 im Robert- Koch-Institut eine Sprechstunde für schwule Männer eingerichtet. Dabei wurden auch Blutentnahmen gemacht und die Seren fein säuberlich eingelagert. Dann kam 1984 der Test, und wir haben sofort das Blut dieser Männer untersucht. Dabei stellten wir zu unserem Entsetzen fest, daß 60 bis 70 Prozent dieser Leute infiziert waren. Ein echter Schock. Erst sehr viel später ist uns klargeworden, daß die Seren eine Selektion von besorgten, promisk lebenden Risikoschwulen waren und in keiner Weise repräsentativ für alle Schwulen.
Wenn Sie jetzt zurückschauen, wo haben Sie in der Krankheitsbekämpfung der ersten Jahre entscheidende Fehler gemacht?
Erst mal glaube ich, daß wir uns im internationalen Vergleich tapfer geschlagen haben. Daß wir heute besser dastehen als vergleichbare Länder wie Frankreich oder die Schweiz, ist auch ein Verdienst unserer Arbeit.
Was hätten Sie aus heutiger Sicht anders anpacken müssen?
Sicherlich haben wir Fehler bei unserer Informationspolitik gemacht. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Nachdem ich durch die schwulen Kneipen und Bars gezogen bin, um mir das alles mal anzusehen, sind wir auf die Idee gekommen, ein Aufklärungsvideo zu produzieren. In den Bars laufen ja ständig diese Videos. Damit war für mich klar: Wir müssen mit einem Aidsvideo dazwischenbaggern. Also haben wir ein Video gedreht. Das lief dann so, daß ich mich hinter meinen Schreibtisch gesetzt und mit ernster Miene zu den „lieben schwulen Freunden“ gesprochen habe.
(kichert)
Lachen Sie nicht! Das mußten wir alles lernen, daß es so nicht geht. Wir haben dann in einer schwulen Buchhandlung einen Aufklärungsabend gemacht, der für unser Videoprojekt gefilmt wurde. Auch da haben wir aber viele Leute nicht erreicht, weil das Publikum überwiegend aus Müslis und Intellektuellen bestand. Die Lederschwulen sind leider nicht gekommen. Mit dem Erfahrungsschatz von heute hätte man sicherlich noch intensiver aufklären und mehr verhindern können. Das war in den wichtigen Jahren 1983 und 1984, in denen sich viele angesteckt haben. Auch die Plakate von damals sehe ich heute kritischer.
Welche meinen Sie?
„Aids geht jeden an.“ Der Satz ist einfach falsch. Die Oma mit dem Kanarienvogel, die geht Aids nun wirklich nichts an. Der Senat hatte die ganze Stadt mit den Plakaten in schwarz-lila zugepflastert. Aber wenn Sie im Bekanntenkreis rumgefragt haben, ob jemand einen Drogenabhängigen kennt, einen schwulen Mann oder einen Aidskranken, dann kannten die alle keinen. Die beschwindeln mich doch, haben die Leute gedacht. Wenn das so schlimm wäre, müßte ich doch auch jemand kennen, der Aids hat. So macht man sich unglaubwürdig.
Der WHO-Epidemiologe James Chin hat den dramatischen Satz geprägt: „Aids wird nie wieder von dieser Erde verschwinden.“ Was bedeutet das für Sie?
Er hat recht. Aids wird tatsächlich nie wieder von unserer Erde verschwinden. Ein bedrückendes Problem sehe ich im Hineinwachsen der Jugend in die Sexualität. Nun haben wir gerade mühsam das Joch der Kirche abgeschüttelt, da kommt diese Krankheit und besetzt die Sexualität schon wieder mit Angst. Das ist schlimm.
Sie haben in Ihrer Zeit als Aidsbekämpfer fünf Gesundheitsminister erlebt. Wer hat sich am meisten in der Aidspolitik engagiert?
Das war sicherlich Frau Süssmuth. Sie hat das zu ihrer Sache gemacht. Ich will aber noch einen anderen Namen nennen, der ganz, ganz wichtig war. Das war der inzwischen verstorbene damalige Staatssekretär von Frau Süssmuth, Werner Chory. Ohne ihn wäre das anders gelaufen. Chory war der erste im Ministerium, der eine liberale Aidspolitik als einzig machbaren Weg verstanden hat. Er hat sich in allen Konflikten für diesen Weg stark gemacht, und er hat Frau Süssmuth im Richtungsstreit mit Gauweiler entscheidend den Rücken gestärkt. Werner Chory war auch der Erfinder der Aidsfachkräfte in den Gesundheitsämtern, um mit diesem Großmodell eine flächendeckende Beratung anzubieten. Das waren Weichenstellungen, die viele Leben gerettet haben.
Zu ihren fünf Gesundheitsministern gehörte auch Seehofer, der
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Sie auf dem Höhepunkt des Blut- Aids-Skandals als Leiter des Aidszentrums davonjagen wollte.
Daß Herr Seehofer alle Leute in eine Tüte wirft, nun ja. Mit diesem Kapitel meines Lebens muß ich fertigwerden. Das Schicksal der Hämophilen hängt uns allen wie ein Mühlstein um den Hals. Aber man darf das nicht nur Schwarz- Weiß sehen. Ich glaube, daß das Kernproblem nie richtig verstanden worden ist. Wir standen vor der Alternative, die Faktor-8-Gerinnungspräparate für die Bluter entweder zu verbieten, oder die Bluter einer möglichen Gefahr auszusetzen. Natürlich haben wir die Behandler vor dieser Gefahr gewarnt und zur Verwendung von Small-Pool-Präparaten2 aufgerufen. Aber wir konnten uns nicht zum Verbot durchringen. Die Präparate waren ja sehr wichtig.
Warum hat man dann nicht frühzeitig Hitze-inaktivierte Präparate verwendet?
Richtig. Das ist das stärkste Argument, dem man sich aus heutiger Sicht nicht verschließen kann. Aber wir leisten uns in Deutschland nun mal eine De-luxe-Variante der Bluterbehandlung. Wenn ein Hämophiler heute Formel-1- Rennfahrer werden will, dann sagen wir „kein Problem“ und geben ihm so viel Präparate, daß er Formel-1-Rennen fahren kann. Wenn er in der Bundesliga spielen will, darf er in der Bundesliga spielen. Das kostet uns zwar das berühmte Einfamilienhaus pro Jahr und Patient, aber wir leisten uns das. In dem Moment aber, in dem nur noch Hitze-inaktivierte Präparate zugelassen worden wären, hätten wir ganz schnell ein Mengenproblem gekriegt: Wir hätten höchstens noch ein Drittel der notwendigen Präparate gehabt, und dann wäre das ganze Substitutionssystem wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Das war der entscheidende Punkt.
Ab welchem Zeitpunkt haben Sie die Katastrophe bei den Blutern kommen sehen?
Im Sommer 1985 war ich mir sicher. Aber schon im November 1983 habe ich den BGA-Präsidenten Überla zu einer Anhörung zum Thema gedrängt. Ich sah damals schon die Bluter bei uns auf der Treppe sitzen und sagen: „Ihr habt uns ins Verderben laufen lassen.“ Daß bei den Hämophilen vieles schiefgelaufen ist – also ich bin der letzte, der das bestreiten würde. Wenn man ehrlich ist, darf man einen anderen wichtigen Aspekt dabei nicht vergessen. Wir waren anfangs nur wenige, die versucht haben, die Ausbreitung dieser Krankheit zu verhindern. Und es war natürlich so, daß wir den Schwerpunkt auf die größte bedrohte Gruppe der Homosexuellen gesetzt haben.
Sie haben anfangs Ihren eigenen Lernprozeß beschrieben. Hat denn unsere Gesellschaft ihre Lektion gelernt? Glauben Sie, daß die weltweite Dimension von Aids wirklich begriffen wird?
Das weltweite Ausmaß der Krankheit haben wir sicherlich nicht begriffen. Wenn man daran denkt, was in Afrika geschieht, dann muß man sich schämen. Es ist wirklich schlimm, wie wenig wir uns da einbringen. Es ist andererseits eine furchtbare, kaum noch faßbare Dimension, wie Aids in Afrika, in Indien, in Thailand wütet. Aber eines hat sich bei uns verändert: der Umgang mit den Homosexuellen. Wann haben Sie den letzten Schwulenwitz gehört? Da ist tatsächlich was passiert. Nur in den Gefängnissen hat sich nichts getan. Wir glauben noch immer an die Fiktion des drogenfreien Knasts, obwohl dort auf Deubel komm raus gefixt wird. Wir nehmen die Infektionen in Kauf. Da muß dringend etwas geschehen.
Daß schleunigst etwas passieren muß, sagen wir seit Jahren auch bei der Therapie- und Impfstoffentwicklung. Glauben Sie nach 14 Jahren Erfahrung in der Aidsbekämpfung, daß wir diese Krankheit besiegen werden?
Nein, wir werden Aids nicht besiegen. Unsere Enkel, unsere Urenkel, unsere Ururenkel – sie alle werden mit dieser Krankheit leben müssen. Ich glaube nicht an einen Impfstoff, ich habe nie daran geglaubt. Bei allen Krankheiten, die wir mit einer Impfung bekämpfen, ist das Immunsystem in der Lage, den Erreger mit eigener Kraft aus dem Körper hinauszuwerfen. Das gilt für Mumps, Masern, Röteln, Diphterie. Bei Aids entwickelt sich die Krankheit trotz der Abwehrreaktion des Immunsystems unentwegt weiter. Wir müßten also einen Impfstoff finden, der die Infektion verhindert. Alle Impfstoffe, die wir heute in der Welt erfolgreich nutzen, verhindern aber lediglich den Ausbruch der Krankheit und nicht die Ansteckung mit dem Erreger. Wir haben schlechte Karten.
Offenbar gibt es inzwischen aber weit mehr Menschen als vermutet, deren Körper irgendwie mit der Infektion fertig wird und zumindest einen Stillstand erreicht. Viele werden 15, 20, vielleicht sogar 50 Jahre mit HIV leben.
Es gibt wahrscheinlich sehr viel mehr Langzeitüberlebende, als wir alle glauben. Wir wissen leider Gottes nicht, warum diese Langzeitüberlebenden das Virus so lange in Schach halten. Es ist ungeheuer schwierig, das herauszufinden. Wenn Sie Mäuse im Labor untersuchen, dann sind die genetisch identisch, und Sie haben ein zuverlässiges Modell. Aber jeder einzelne Mensch besitzt ein individuelles, vom anderen völlig verschiedenes Immunsystem. Sie können diese Dinge aber nur untersuchen, wenn Sie ein Modell haben für die zelluläre Immunabwehr.
Also tappen wir weiter im dunkeln?
Nicht ganz. Man hat Langzeitüberlebende untersucht und dabei festgestellt, daß ihre Viren fast alle irgendeinen Defekt haben. Das ist vermutlich ein Grund für die langen Überlebenszeiten.
Wenn wir schon keinen Impfstoff entwickeln, glauben Sie, daß wir wenigstens eine Therapie finden, die das Virus in Schach hält?
Bei Licht betrachtet sind alle bisherigen therapeutischen Ansätze ein Schuß in den Ofen. Das Virus verändert sich so schnell, daß innerhalb von 20 Tagen die gesamte Viruspopulation ersetzt werden kann durch eine neue Population, die gegen die jeweilige Arznei resistent ist. Unsere große Hoffnung ist die Kombinationstherapie. Wenn wir verschiedene Medikamente gleichzeitig oder hintereinander geben, ist das Virus überfordert. Seiner Mutationsfähigkeit sind einfach Grenzen gesetzt. Die Wahrscheinlichkeit, daß es gegen verschiedene Substanzen gleichzeitig resistent wird, ist gering. Das ist der Weg, der heute beschritten wird. Aber wir wissen ja noch nicht einmal, wann wir die Leute behandeln sollen: unmittelbar nach der Infektion, erst wenn sie krank werden oder noch in der klinisch ruhigen Phase? Da haben wir noch viel zu lernen. Aber wenn die Wissenschaft uns weiterbringt, dann noch am ehesten auf dem Feld der antiviralen Substanzen.
Was halten Sie von den neuen Protease-Hemmern3, auf die man viel Hoffnung gesetzt hat?
Es entwickeln sich leider schnell Resistenzen gegen diese Mittel. Auch bei den Tibo-Compounds4 hat man sich viel versprochen. Sie zeigen in vitro eine ungeheure Wirkung. Beim Menschen sind sie praktisch wirkungslos. Dennoch bin ich als Virologe guter Hoffnung, ich muß guter Hoffnung sein, daß eine therapeutische Strategie gefunden wird.
Herr Koch, was machen Sie als Pensionär im Wonnemonat Mai?
Von wegen Pensionär. Ich bleibe in vielen Gremien, und ich berate weiterhin das Ministerium. Das Bundesseuchengesetz bedarf dringend der Novellierung. Und ich werde mich weiter mit der Überwachung von Infektionskrankheiten beschäftigen. Ich möchte gerne dafür sorgen, daß in der Bundesrepublik kein Kind mehr an Masern stirbt, daß wir die Immunität gegen die Diphterie so hoch bringen, daß wir trotz der großen Epidemie in den GUS- Staaten unbesorgt bleiben können. Die HIV-Infektion ist eine nicht unbedeutende Krankheit, aber es gibt viele andere Krankheiten, deren Bekämpfung vernachlässigt worden ist.
1 Kuba hat als einziges Land HIV-Infizierte systematisch ausgesondert und sie in speziell bewachten Aidshäusern eingesperrt.
2 Small-Pool-Präparate werden aus kleinen Spendergruppen gewonnen. Je mehr Spender ihr Blut in einen Pool geben, desto größer ist die Gefahr einer Infektion.
3 Protease-Hemmer sind antivirale Medikamente. Sie blockieren das eiweißspaltende, für die Virusvermehrung notwendige Protease- Enzym.
4 Tibo-Compounds wurden in den letzten Jahren zur Aidstherapie entdeckt. Sie sind Abkömmlinge von Diazepam-Substanzen, zu denen z.B. Valium gehört.
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