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Die Verdammten vom Bieberer Berg

Der sportliche Abstieg der Offenbacher Kickers wird als soziokulturelle Apokalypse antizipiert  ■ Von C. Biermann

Es muß ein Irrtum sein, ein schrecklicher Irrtum. Die Wirklichkeit kann das doch bitte nicht sein. Also noch mal auf der großen Trommel den komplizierten Takt vorgeben. Auf den letzten Schlag die Arme in die Luft reißen und zum verzweifelten Ruf die Rücken durchdrücken: „Kickers!“ Der Aufschrei der Vierhundert mit den rot-weißen Trikots, Schals und Fahnen gerät im Fanblock unter dem Tribünendach noch lauter, noch unbedingter. „Kickers!“ Wie groß ist ihre Liebe zum Verein, und wie unwürdig sind die Fragen, die durch das Stadion schwirren! Sind vier Spiele vor Rundenschluß drei Punkte Rückstand auf Nichtabstiegsplatz 14 und Egelsbach aufzuholen? Wo auch Lohhof (15.) noch drei Zähler mehr hat?

Die Kickers viertklassig? „Wie geht es bloß weiter?“ fragt die Dicke mit dem Schal und möchte Stefan Schummer auf der Suche nach Trost am liebsten um den Hals fallen. „Wir waren so ein großer Verein. Weißt du noch, dein Tor, damals gegen Essen?“ Natürlich erinnert „Schummi“ sich, '89 die Rettung vor dem Abstieg im letzten Spiel. Und zwei Wochen später der Lizenzentzug. Der brave Verteidiger spielt seit 15 Jahren bei den Offenbacher Kickers und hat alle Skandale und Abstürze miterlebt. Und immer noch steht Stefan Schummer auf dem Platz und ist nicht müde, sondern träumt den Traum der Kickers weiter. „Es ist doch alles da“, sagt er und meint nicht nur die bundesligareifen Bedingungen im Spielertrakt des Stadions, sondern vor allem die Hingabe der Fans. Deshalb ist er geblieben und hat sich vom Fußballprofi sogar zum Amateur zurückstufen lassen, als das nötig wurde. Jetzt arbeitet er jeden Tag bis halb vier als Maler und Lackierer und geht danach zum Training. „Ich habe als Fußballer viel gesehen, prächtige Stadien und schäbige Baracken, habe auf Äckern und Rasenteppichen gespielt, aber hier ist es einmalig.“

So sind sie alle auf dem Berg der Verlorenen. Auf jedem Gesicht liegt ein Hauch von Fieber. Aber anders geht es wohl nicht, wenn man all die Leiden und Erniedrigungen der letzten Jahrzehnte zu tragen hat. Denn es liegt ein Fluch über dem Verein. So als müßten die Kickers immer wieder dafür büßen, daß Horst-Gregorio Canellas an jenem Juli-Nachmittag des Jahres 1971 auf seiner Geburtstagsfeier den Abspielknopf seines Tonbandes drückte. Die gesamte Führung des deutschen Fußballs mußte dem Ächzen und den pfeifenden Atemgeräuschen des Offenbacher Südfrüchtehändlers beim Geschachere um Bundesligapunkte zuhören. Die Offenbarungen des betrogenen Betrügers, dessen Schiebungen den OFC nicht vor dem Abstieg gerettet hatten, sorgten dafür, daß die Bundesliga ihren Skandal hatte – und die Kickers ihre Erbsünde. Danach wurde es niemals wieder richtig gut.

Der wievielte Präsident nach Canellas ist Wilfried Kohls (44) eigentlich? Der wievielte, der einen neuen Anfang verspricht und Durchhalteparolen ausgibt? Bei dem sanft und traurig wirkenden Kohls klingen auch die noch leise und bedrückt: „Wir müssen anpacken, auch wenn einem die Tränen in den Augen stehen.“ Natürlich ist Kohls schon fast sein ganzes Leben bei den Kickers. Er spielte in der Jugend und wurde Ersatztorwart jener Bundesligamannschaft, bei der Otto Rehhagel seine Trainertätigkeit begann. Er stand in der zweiten Liga im Tor und war danach zehn Jahre lang Trainer der zweiten Mannschaft und der Jugend. Seit sechs Monaten ist er Vereinspräsident, seit fünf Wochen auch noch Trainer des Regionalliga-Teams. Nicht zuletzt, um Geld zu sparen.

Alles im Vorstandszimmer verweist auf bessere Zeiten, auf die Pokalsieger von 1970 und Süddeutschen Meister der 50er Jahre. An den Wänden hängen Fotos großer Spiele und großer Teams. Doch Kohls' Blick nimmt die reich bestickten Traditionsfahnen kaum wahr, denn er redet über einen Scherbenhaufen. „Ich habe alles erlebt, was man falsch machen kann. Und daß wir aus dem totalen Absacken immer wieder nur ein paar Schritte hochgekommen sind.“ 1991 sollten die Kickers schon aufgelöst werden und retteten sich gerade noch. Heute sind es schon wieder 2,1 Millionen Mark Schulden, die Kohls hofft, bis zum Ende des Jahres auf einen harten Rest von 750.000 Mark reduzieren zu können.

Doch das wäre immer noch viel, zumal der Bieberer Berg, eines der schönsten Stadien Deutschlands, den Kickers wie ein Bleiring um den Hals liegt. Gut 350.000 Mark muß der Verein pro Jahr für Unterhalt und ständige Renovierung der bröckelnden Arena beschaffen. Im Juli 1992 bekamen sie das Stadion nämlich von der Stadt geschenkt. Offenbachs rigider Sanierer, der damalige Stadtkämmerer und heutige Bürgermeister Gerhard Grandke (SPD), ließ auch den OFC seine berühmte „Liste der Grausamkeiten“ spüren. Bei der radikalen Entschuldung der Stadt konnte auf die Kickers keine Rücksicht genommen werden. Schon gar nicht, weil man gleichzeitig Theater, Schwimmbäder und Jugendzentren schloß.

Aber auch das paßt zum OFC- Gefühl, das zugleich ein Offenbach-Gefühl ist. „Der OFC war immer der ungeliebte und doch erfolgreiche Verein, der die Hoffnung der wenig Erfolgreichen gespiegelt hat“, sagt Präsident Kohls. Offenbach ist eine Stadt der Underdogs, der Armen, Alten und Hoffnungslosen, nicht nur weil hier die höchste Sozialhilfe pro Kopf in den alten Bundesländern gezahlt wird. Unverhohlen wird im Rathaus von einer „extremen Sozialstruktur“ gesprochen, die nun verändert werden soll. Besserverdienende sollen in die Stadt gelockt werden, derweil die Armen darauf hoffen, daß einmal auch etwas für sie abfällt.

„Es gibt viele hier im Stadion, die nur noch wenig Geld haben und es für den OFC ausgeben“, sagt Peter Wolff, ein ruhiger, freundlicher Fan, dessen Besessenheit man erst ermessen kann, wenn man weiß, daß er kein Spiel der Kickers ausläßt und ihnen sogar ins Trainingslager nachreist. Die Kickers bieten, so desolat sie auch scheinen, noch immer Halt und Zusammengehörigkeitsgefühl. „Es wird nichts geboten in Offenbach, und deshalb fragen viele Fans: Was haben wir ohne den OFC denn noch?“ ergänzt Stefan Schummer. Die Verzweiflung über die sportliche Talfahrt und die Angst vor dem Ende des Vereins entlud sich vor drei Wochen gewalttätig. Als sich gegen Unterhaching eine erneute Niederlage abzeichnete, kletterte ein Fan über den Zaun und trat auf dem Anstoßpunkt in den Sitzstreik. Andere kamen hinterher, und einer sprang dem Bernd Gramminger in den Rücken. Der Spieler, ein gelernter Boxer, schlug zurück. Nach dem Spiel wurden die Spieler mit Eiern beworfen, und die Fans belagerten noch lange nach Spielschluß die Kabine. Und wieder einmal hatten die Kickers ihre Liste der Skandale ein wenig verlängert.

Bei einem Treffen zwischen Spielern und Vorstand mit den Fans verzieh man sich einige Tage später gegenseitig. Bei den Anhängern wich die Zukunftsangst und bei den Spielern der Schrecken vor ihrem Publikum. „Gegen Unterhaching haben sich 20 Jahre Frust entladen“, sagt Volker Goll vom Fanzine Erwin, dessen Name an den Offenbacher Säulenheiligen Erwin Kostedde erinnert. Erwin ist es gelungen, sich ohne Anbiederung an eine schwierige Szene, in der es noch immer viele gewaltbereite Fans gibt und beharrlich Frankfurter Vereine als „Judenklubs“ beschimpft werden, zu etablieren. Aber natürlich stehen auch die Macher von Erwin bei aller politischen Korrektheit „wie verrückt hinter dem Verein“ (Goll). Und so verkaufen sie bei den Spielen mit 2.000 Besuchern problemlos 1.000 ihrer Hefte, die die FAZ als „erstklassig“ lobt.

Solcher Wahn, zugleich Fluch und Verheißung, ist es, der die Kickers am Leben hält. Auf den Tribünen, im Vorstand, auf der Trainerbank und selbst auf dem Feld. Und er scheint nicht zu vergehen. Gerade ist die Jugendmannschaft der Kickers Hessenmeister geworden und hat dabei die verhaßte Eintracht hinter sich gelassen. Trotz lukrativer Angebote wollen die Spieler beim OFC bleiben, wie Jugendtrainer Martin Wolf weiß: „Denn sie träumen davon, daß hier am Bieberer Berg von den Fans ihre Namen gerufen werden.“ So hoffen alle weiter, daß die Wahrheit nur ein Irrtum ist und der Traum bald beginnt.

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