: Mit den Händen singen
■ Wahrnehmungsvergleiche: Im Podewil wird eine Dokumentaroper des Komponisten Helmut Oehring mit gehörlosen "Gebärdensängerinnen" aufgeführt
„Wenn ich meine Stimme benutzen soll, habe ich das Gefühl, ich sitze in einem Loch, in einem Brunnen, und meine Identität geht verloren, weil ich mit der Lautsprache nicht das ausdrücken und zeigen kann, was ich eigentlich will“, sagt Christina Schönfeld. Sie ist eine der drei gehörlosen „Gebärdensängerinnen“, die der Musiker und Komponist Helmut Oehring in seiner „Dokumentaroper“ singen läßt, obwohl es in der Gebärdensprache noch nicht einmal ein Wort für „Musik“ gibt. Schon allein daran ist die Wand zu erkennen, die zwischen Hörenden und Nichthörenden steht.
Helmut Oehring versucht, diese Wand zu durchbrechen. Das hat durchaus biografische Gründe. Denn als Kind gehörloser Eltern ist seine Muttersprache die Gebärdensprache. „Wenn ich komponiere, sind es Gebärden, die ich komponiere, und zwar mit einem bestimmten Text.“ Wie soll man das nachvollziehen? Wie ist die räumliche Dimension der Gebärde in die lineare Struktur der Musik übertragbar? „Ich weiß, daß ich es mache, und ich weiß, daß ich es kann, aber ich kann es nicht erklären. Ich wäre kein Musiker geworden, wenn ich das mit Worten erklären könnte“, sagt er.
In der Dokumentaroper konfrontiert Helmut Oehring die Wahrnehmung der Gehörlosen mit der Wahrnehmung der Hörenden. Er weitet den Gesang auf die nicht hörbare Sprache aus. Zu rhythmischen Verläufen der Partitur werden Texte „gebärdet“. Um zu zeigen, daß „eine wirkliche Verständigung nicht gegeben ist“, bringt er die Gehörlosen jedoch in die Situation, sprechen zu müssen, und die Sprechenden in die Situation, die Gebärdensprache benutzen zu müssen. Beide Gruppen haben keine Kontrolle darüber, was sie letztlich eigentlich sagen.
Es gehört Mut dazu, sich einer Kommunikationsform zu bedienen, die man nicht steuern kann. Für Gehörlose ist es die Realität, werden sie von klein auf darauf getrimmt, die Lautsprache zu benutzen. Die Gebärdensprache ist in Deutschland nach wie vor nicht anerkannt. „Mein Ausdrucksmittel sind meine Hände, und damit versuche ich mich nach außen hin bemerkbar zu machen“, sagt Christina Schönfeld. Sie macht bei Oehrings Oper nicht wegen künstlerischer Ambitionen mit, sondern weil sie jede Gelegenheit nutzt, um zu zeigen, daß eine Zusammenarbeit zwischen Hörenden und Gehörlosen möglich ist. „Würde ich diese Musik jetzt nur ,hören‘, ohne die Leute zu sehen, ohne überhaupt einen optischen Eindruck zu haben, würde es mir absolut nichts geben.“
Oehring ist vieles: Als Musiker Autodidakt, als Komponist Dokumentarfilmfan. Während er komponiert, läuft meist ein Film. Daß er in seiner Oper zwei Welten zusammenbringt, die auch in der Realität zwar aufeinandertreffen, aber nicht zusammenkommen, nämlich die der Hörenden und die der Nichthörenden, macht für ihn den dokumentarischen Aspekt aus. „Die Taubstummen sind wirklich taub. Sie kommen in eine Situation, die sie tagtäglich erfahren, nämlich sich mitten unter Hörenden zu befinden und bestimmte Dinge nicht teilen zu können. Umgekehrt ist es genauso. Mit jemandem konfrontiert zu sein, der taub ist, für den Musik bedeutungslos ist, ist das Schlimmste, was Musikern passieren kann.“
Ein verpatzter Einsatz ist nicht auszugleichen
Dazu kommt, daß ein Prozeß in Gang gesetzt wird, der nicht mehr kontrollierbar ist, sobald die Aufführung begonnen hat. „Wenn die Taubstummen einen Einsatz verpassen oder der Dirigent einen falschen Einsatz gibt, gerät die Struktur des Stückes aus den Fugen und ist nicht mehr reparierbar.“
Versucht man, die Dokumentaroper zu beschreiben, ist man sehr schnell mit einem Mangel an eigener Sprache konfrontiert. Musikalisch wirkt es wie eine wild aneinandergebaute Geräuschcollage, ein verstärktes Geräuschchaos. Das Libretto ist für Leute, deren Muttersprache Deutsch ist, schwer, wenn überhaupt, zu verstehen, da es nach den grammatikalischen Regeln der Gebärdensprache aufgebaut ist. Die Choreographie ist nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten, sondern nach semantischen Aspekten der Gebärdensprache strukturiert.
Die Stimmen sind hoch, schrill, angenehm oder geflüstert, aber eine Aussage über die Stimme einer Gehörlosen zu machen, zeigt auch nichts anderes als kulturelle Ignoranz. „Das würde mir überhaupt nichts bringen“, sagt Christina Schönfeld, „ich würde bloß sehen, aha, der Hörende hat wieder etwas geschrieben, was ihn interessiert, was mich aber überhaupt nicht berührt. Ich höre meine Stimme nicht. Sie ist für mich nicht existent. Sie ist außerdem ein anstrengendes Kommunikationsmittel.“
Bleiben noch Übertreibungen und Superlative, um die Oper in Worte zu fassen wie „das hervorragende Ensemble Modern“, „der überwache und angespannte Blick der Musiker und des Dirigenten Roland Kluttig“, „der schrille Ton“, „die vollständige Negierung von klanglicher Harmonie“, „der nie erwartete Wechsel zwischen Geräusch und Stille“. – Letzteres hat für Gehörlose wie Christina Schönfeld aber eben auch eine andere Dimension. „Stille ist Augenschließen. Vor dem Augenschließen haben alle Gehörlosen Angst. Für mich ist Augenschließen wie der Tod.“ Waltraud Schwab
„Bitte sagen Sie Ihren Namen noch einmal“, heute und morgen, 20 Uhr, Podewil, Klosterstraße 68-70, Mitte
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