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Afghanistans neue Metropole

Während in Kabul gekämpft wird, entsteht in der Provinz ein friedlicher Staat im Staat  ■ Aus Dschalalabad Ahmad Taheri

Der safrangelbe Himmel im Osten verheißt einen sonnigen Tag. Im Zentrum der nordpakistanischen Stadt Peschawar wartet ein buntbemalter Bus mit heulendem Motor auf die Fahrgäste. „Dschalalabad, Dschalalabad“, ruft der Fahrer. Die Fahrt bis zum Berg Torcham an der pakistanisch- afghanischen Grenze dauert eineinhalb Stunden. Auf der rechten Seite ist die Straße von rotbraunem, zerklüftetem Gestein gesäumt, links blickt man in tiefe Schluchten. Hoch über dem Berg ragt die tausendfünfhundert Jahre alte Silhouette eines Stupa, der traurige Rest des einst blühenden buddhistischen Reichs von Gandahara.

Es gibt viel majestätischere Pässe im Himalaya oder im Hindukusch. Und doch läßt kaum ein Paß in Mittelasien das Herz des Besuchers höher schlagen: Der Khyberpaß ist zur Legende geworden. „Im Staub dieser Erde“, schrieb der US-amerikanische Diplomat James W. Spain, „liegen persisches Gold, griechisches Eisen, tatarisches Leder, mongolische Edelsteine, afghanisches Silber und britischer Stahl.“ Von den märchenhaften Schätzen Indiens angelockt zogen die Eroberer der Weltgeschichte über den Khyber: Darios, Alexander, Dschingis Khan, Tamarlan.

Der pakistanisch-afghanische Checkpoint am Khyberpaß besteht aus einer Mauer und einem riesigen Eisentor. Unten in der Ebene von Dschalalabad schlängelt sich der Kabul-Fluß durch die Mohnfelder. „Das ist meine Heimat“, ruft Samad Schinwari aufgeregt. Samad lebt seit 16 Jahren in Deutschland, wo er Maschinenbau studiert hat. Jetzt kommt er nach Dschalalabad, um an der Hochzeit seines jüngeren Bruders teilzunehmen. Zwei Boss-Anzüge, „einer für den Sommer, einer für den Winter“, liegen in seinem Riesenkoffer für den Bräutigam, der ein Mudschaheddinkommandant ist.

Dschalalabad ist nicht wiederzuerkennen. Vor zwei Jahren wirkte das Zentrum der südöstlichen Provinz Nangahar wie ein verschlafenes, schäbiges Dorf. Jetzt herrscht in den baumbestandenen Straßen pralles Leben. Die Bevölkerung ist binnen weniger Jahre durch die Flüchtlinge aus dem umkämpften Kabul um das Fünffache gewachsen. 150.000 Menschen leben zur Zeit in der Stadt. Teehäuser und Herbergen reihen sich aneinander. Die Läden sind bis zur Decke gefüllt, die Preise sind bisweilen zwei Drittel niedriger als in der afghanischen Hauptstadt. Viele Waren, die über den Khyber kommen und für Kabul bestimmt sind, werden wegen unsicherer Straßen in Dschalalabad feilgeboten. Auf den Straßenkreuzungen stehen uralte Polizisten in abgetragenen blauen Uniformen auf ihren Podesten und versuchen, des Getümmels von Lastwagen, Bussen, Taxis, Rikschas, Pferdekarren und schwerbeladenen Kamelen Herr zu werden.

Dschalalabad ist inzwischen auch eine kosmopolitische Stadt geworden. Hunderte von Hilfsorganisationen aus aller Herren Länder sind hier angesiedelt. Zehntausende von Flüchtlingen, die dem Bürgerkrieg in Kabul entkommen sind, leben in Zelten in der Umgebung von Dschalalabad. Vertreten sind, so sagt man, auch die ausländischen Geheimdienste, vor allem US-Amerikaner und Pakistanis. Der Manager des Hotels Spinghar, Red Schneider, ein junger US-Bürger aus dem fernen Pennsylvania, sei, so die Gerüchte, ein Drogenfahnder. „Jeder fragt sich“, sagt der 28jährige in Jeans und T-Shirt, der früher den American Club in Islamabad leitete, „was macht dieser Amerikaner in diesem gottverlassenen Ort?“ – „Sind Sie vom Geheimdienst?“ – „No comment“, erwidert der smarte Manager, der Humphrey Bogart liebt und den britischen Kolonialdichter Kipling, mit süffisantem Lächeln.

Spinghar, auf deutsch „der weiße Berg“, wurde in den sechziger Jahren gebaut. Bis zum Sieg der Mudschaheddin gehörte es der Stadt. Jetzt befindet sich das Hotel in privater Hand. Ein reicher Afghane, der in den USA lebt, ist der Besitzer. Das zweistöckige Haus beherbergt hauptsächlich ausländische Diplomaten und Journalisten. Und wenn die Mudschaheddinführer wieder einmal Frieden schließen wollen, tagen sie im „Weißen Berg“. Die bescheiden eingerichteten Zimmer kosten 20 Dollar. Für den doppelten Preis kann man die Präsidentensuite mit Blick auf den Hotelpark beziehen.

In der Provinz regiert ein Rat der Mudschaheddin

Die Provinz Nangahar verdankt Frieden und Wohlstand dem Schora-e Dschihadi, dem Rat der Mudschaheddin. Seit dem Sturz des kommunistischen Regimes vor drei Jahren wird Nangahar von dem 52köpfigen Gremium regiert. In dem Rat sind alle acht sunnitischen Mudschaheddinparteien sowie die Stämme und die Geistlichkeit vertreten. Die stärkste Gruppe mit sieben Abgeordneten ist die Islamische ParteiII des greisen Theologen Junes Khales, gefolgt von der Islamischen Partei von Gulbuddin Hekmatyar.

Der Vorsitzende des Schora, und damit der Wali, der Gouveneur, ist Hadsch Abdolghadir. Der 53jährige hochgewachsene Paschtune gilt als ein besonnener, weltoffener, pragmatischer Mudschaheddinführer. Mit Beredsamkeit, der Autorität eines gestandenen Dschihad-Helden und der Macht der Schinwari, des größten paschtunischen Stammes in Nagahar, dem er angehört, ist es Abdolghadir gelungen im Rat die üblichen afghanischen Zwistigkeiten zu unterbinden. Der Rat ist einer von den Parteiführern unabhängigen Politik verpflichtet. Nur einmal kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung im Rat. Vor zwei Jahren wurde Schomali-Chan, der Stellvertreter des Gouverneurs und ein Parteigänger des Staatspräsidenten Burhanuddin Rabbani, mit seinen Begleitern vor seinem Haus von Unbekannten erschossen. Es sei kein politischer Mord gewesen, meinen die Schora-Leute, sondern eine private Blutrache. Abdolghadir hat auch dafür gesorgt, daß die „Afghanis“, wie die arabischen Afghanistankämpfer genannt werden, in ihre Heimat zurückkehren. Sie hatten nach dem Sieg der Mudschaheddin die Bevölkerung schikaniert.

„Der große Dschihad ist der Kampf gegen die Triebseele. Den haben wir hier in Dschalalabad gewonnen“, sagt Fazl Muhammad, Rektor der islamischen Universität von Nangahar und Mitglied des Schora. Der Sieg über die afghanische Triebseele kommt nicht nur der Bevölkerung zugute, sondern auch den Herren von Dschalalabad selbst. Man schießt sich wegen der Pfründe nicht gegenseitig tot, man teilt sie brüderlich miteinander. Die Mudschaheddinkommandanten sind in wenigen Jahren steinreich geworden. Die Männer der Schora wohnen in herrschaftlichen Häusern. Sie fahren in nagelneuen japanischen Limousinen mit Telefon und kugelsicheren Fenstern. Ihre Söhne, Brüder, Neffen oder Schwäger studieren an westlichen Universitäten. Die Töchter und Ehefrauen sitzen indes für gewöhnlich im sicheren Pakistan.

Die Provinz Nangahar ist eine wahre Goldgrube: Riesige Summen kassiert der Rat als Zollgebühren für Waren, die über den Khyberpaß kommen. Noch gewinnträchtiger ist der Anbau und Handel von Drogen. Mohn und Hanf gedeihen in den wasserreichen, fruchtbaren Ebenen von Dschalalabad wie nirgendwo sonst in Afghanistan: Hinter so manchen hohen Mauern würden sich gut ausgerüstete Heroinfabriken verbergen, vermutet der Hotelmanager Red Schneider.

Praktisch ist Nangahar ein eigener Staat. Die Schora ist Parlament und Kabinett zugleich. Nangahar hat auch eine eigene Armee. Die Mudschaheddin haben ihre Gewänder gegen olivgrüne Uniformen getauscht und patrouillieren nach Einbruch der Dunkelheit in der Stadt und der Umgebung. Auch über Panzer und Flugzeuge verfügt das Heer von Nagahar.

Die Zentralgewalt in Kabul hat hier nichts zu melden

Mit zwei weiterern östlichen Provinzen, Konar und Laghman, bildet Nangahar eine Förderation. Die Regierung von Kabul hat in der reichen Provinz nichts zu melden. Wenn der Präsident Rabbani nach Dschalalabad kommt, wird er nicht als Staatsoberhaupt empfangen, sondern als ein Mudschaheddinführer unter anderen. Neben Masar Scharif im Norden und Herat im Westen ist Dschalalabad eine Enklave des Friedens und der Ruhe mitten im afghanischen Unheil. „Die eigentliche Hauptstadt Afghanistans ist Dschalalabad“, hört man von den Bewohnern.

Eine zweite Hauptstadt Afghanistans war Dschalalabad schon zu Beginn dieses Jahrhunderts. König Habibullah Khan machte 1904 die Stadt wegen ihres subtropischen Klimas und ihrer üppigen Vegetation zu seiner Winterresidenz. Mit seinem Harem und einer Schar von Lustknaben wohnte er in seinem prächtigen Schloß am Kabul-Fluß. Doch Glück brachte Dschalalabad dem vergnügungssüchtigen Emir nicht. Bei einem Ausflug wurde er in seinem Zelt ermordet. Heute liegt er in der Stadt neben seinem Sohn König Amanullah begraben. Seit Habibuallah war Dschalalabad bis 1973 der Wintersitz der afghanischen Herrscher. Im Sommer gilt die Stadt dagegen als mörderisch. „Wünschst du den Tod, dann gehe nach Dschalalabad“, heißt es im Volksmund. Ihren Namen hat die Stadt von dem Fürsten Dschalaluddin, eines Nachkommen von Baber, jenem mittelasiatischen Eroberer, der im 16. Jahrhundert die Moguldynastie in Indien gründete. An den Mogulherrscher erinnern noch heute viele Gärten im indischen Stil in Dschalalabad.

Zur Zeit der russischen Besatzung Afghanistans war Dschalalabad das kommunstische Bollwerk gegen die Mudschaheddin. Der mehrfache Versuch der muslimischen Rebellen, die Stadt einzunehmen, scheiterte kläglich. Nach dem Sturz des kommunistischen Regiments blieb die Stadt vom muslimischen Bruderkampf verschont. Seitdem war Dschalalabad das Vorbild einer friedlichen Zukunft am Hindukusch. Doch neuerdings ziehen sich dunkle Wolken über der Stadt zusammen. Die Taleban, die Koranschüler, stehen in der benachbarten Provinz Paktia und pochen an die Pforte Nangahars. „Sie fordern“, sagt Ratsmitglied Fazl Muhammad, „daß wir den Mudschaheddinführern, die sich gelegentlich hier treffen, keinen Einlaß mehr gewähren. Sie wollen, daß wir die Opium- und Haschischfelder vernichten.“

Um den paschtunischen Eiferern der Taleban den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat der Rat bereits einige „Reformen“ in Angriff genommen. Dem Beispiel Kandahars, der Hauptstadt der Taleban, folgend, wurde den Männern in Dschalalabad Vollbart, kurzer Haarschnitt und „islamische Kleidung“ verordnet. In einem Rundschreiben an ausländische Organisationen forderte die Schora die Entlassung der afghanischen Frauen aus ihren Arbeitsstellen. Die Paschtunen in Dschalalabad hegen für ihre frommen Volksgenossen, die Taleban, eine gewisse Sympathie, doch nur, wie Fazl Muhammad sagt, so lange sie an anderen Fronten kämpfen. „Wenn die Taleban es wagen, nach Nangahar zu kommen“, sagt ein Mudschaheddinkommandant, „dann werden wir sie alle in den Kabulfuß werfen, damit das Wasser sie dahin bringt, wo sie hergekommen sind.“ Der Fluß von Kabul mündet in den pakistanischen Indus.

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