: Das uninteressante Objekt Mensch
Die Schriftstellerin Rose Macaulay auf Autoreise von den Pyrenäen bis Portugal ■ Von Kirsten Brandt
Im 6. Jahrhundert vor Christus machte sich ein griechischer Seefahrer von der Nordsee aus auf die lange und abenteuerliche Fahrt nach Hause, durch den Atlantik, die Westküste Portugals hinunter, vorbei an den „Säulen des Herakles“ und entlang der Mittelmeerküste bis in seine Heimatstadt Marseille. Über diese Reise verfaßte er einen detaillierten Bericht. Rund tausend Jahre später, im 4. Jahrhundert n. Chr., nahm der römische Dichter Rufus Festus Avienus den Bericht als Grundlage für seine Dichtung „Ora Maritima“; und wiederum anderthalb Jahrtausende später machte sich Rose Macaulay auf den Spuren jenes Seefahrers auf eine Fahrt entlang dieser sagenhaften Küste.
Der Name Rose Macaulay ist heute fast vergessen. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war sie jedoch, zumindest in England, eine anerkannte Schriftstellerin. Sie gehörte zur Bloomsbury Group um Virginia Woolf; 1958 wurde sie, kurz vor ihrem Tod, aufgrund ihrer literarischen Verdienste zur „Dame“ ernannt. Rose Macaulay wurde 1881 in Cambridge geboren. Bereits 1906 erschien ihr erster Roman „Abbots Verney“; berühmt wurde sie jedoch erst 1920 mit „Potterism“, einer satirischen Familiengeschichte.
1949 erschien „Fabled Shore“. In diesem Buch berichtet Rose Macaulay von der Autoreise, die sie 1947 auf den Spuren jenes griechischen Seefahrers aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert unternahm, allerdings in umgekehrter Richtung, „von den Pyrenäen bis Portugal“ (so der Untertitel). Rose Macaulay zitiert in diesem Buch zahlreiche andere Reiseberichte. Immer wieder greift sie auf die „Ora Maritima“ zurück – „reichlich langweilige und prosaische Verse, aber faszinierendes Material“, wie sie sagt; aber auch Livius und Strabo, englische und französische Reisende des 18. und 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel Théophile Gautier kommen zu Wort. Mit besonderem Vergnügen vergleicht sie ihre eigenen positiven Erfahrungen mit denen des übellaunigen Richard Ford, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Iberische Halbinsel bereiste und ihre Bewohner unerträglich fand. Ihr Buch wird so zu einer faszinierenden Sammlung von sich überlagernden Erlebnissen und Ansichten aus mehr als zwei Jahrtausenden.
Für den heutigen Leser kommt, knapp ein halbes Jahrhundert nach Entstehen des Buches, der Vergleich zwischen Rose Macaulays Erfahrungen und der heutigen Realität als weitere Dimension hinzu. Seltsam mutet es heutzutage an, wenn man liest, wie sie die unberührte Schönheit der Costa Brava preist. Auf ihrer gesamten Reise sei ihr nur ein einziger Wagen mit britischem Kennzeichen begegnet, sagt sie und: „Sollte die Costa Brava jemals wirklich reich werden und florieren, stellt man sich solch schöne Gasthöfe vor, die sich an Privatvillen reihen und jede Bucht mit Gärten und weißen überdachten Terrassen schmücken. Dieser Tag, sollte er jemals kommen, ist jedoch noch fern, und die Costa Brava besteht immer noch hauptsächlich aus einer Reihe kleiner Fischerdörfer und unverpachteter Buchten und Felsen. Nichts kann ihre natürliche Schönheit zerstören...“
1947, weniger als zehn Jahre nach Ende des Spanischen Bürgerkriegs, waren dessen Spuren noch unübersehbar. Vor allem die ausgebrannten Kirchen beeindruckten Rose Macaulay, wie zum Beispiel in Figueres: „Geheimnisvoller Wahnsinn, der dann und wann die Spanier überfällt und zu diesen seltsamen pyrrhischen Attacken verleitet! Er scheint das Gegenstück zur religiösen Hingabe zu sein... Es war merkwürdig, sich die freundlichen Figuerenser bei ihrem feurigen Werk vorzustellen, wenn man sie an diesem Julimorgen elf Jahre später so friedlich und fröhlich auf ihrem weiten Marktplatz beschäftigt sah.“
In gewisser Weise steht Rose Macaulays Reise in der Tradition der Grand Tour, der im 18. und 19. Jahrhundert vor allem in England so beliebten Reise durch Europa. War sie zunächst vor allem eine Möglichkeit für junge Adlige gewesen, auf dem „Kontinent“ wichtige diplomatische Beziehungen zu knüpfen, wurde sie ab Mitte des 18. Jahrhunderts, als auch die Söhne wohlhabender Bürger nach Europa aufbrachen, zunehmend zur Bildungsreise. Jetzt stand nicht mehr die höfische, sondern die künstlerische Ausbildung im Mittelpunkt; Malerei und bildende Künste lockten die Touristen.
Und auch Rose Macaulays Reise ist in erster Linie eine Bildungsreise. Nicht Land und Leute will sie kennenlernen, sondern vor allem die Landschaft und Architektur entdecken, wie sie in ihrem Vorwort ausdrücklich sagt: „Aber was ich an den Touristen des 19. Jahrhunderts besonders merkwürdig fand, war das außerordentliche Interesse, das einige von ihnen am persönlichen Auftreten der Spanierinnen zeigten, die für mich in jeder Landschaft zu den uninteressantesten Objekten gehören. Ich meine natürlich nicht speziell die Spanierinnen (die üblicherweise gut aussehen), sondern die menschliche Bevölkerung eines jeden Landes. Das ist zweifelsohne meine persönliche Einschränkung des Geschmacks, der Gebäude und Landschaften ästhetisch befriedigender findet als die lebenden Geschöpfe. Aber viele Spanienbesucher scheinen beinahe genauso viel Interesse daran zu haben, Frauen anzustarren, wie die Spanier selbst...“
Landschaft und Architektur sind es denn auch, denen sich Rose Macaulay in erster Linie widmet, wobei sie stets der Vergangenheit nachspürt, die die Gegenwart überlagert und prägt. So versäumt sie selten zu erwähnen, daß die meisten Kirchen an der Stelle stehen, an der sich zu maurischen Zeiten die Moschee befand; diese wiederum war auf die Ruinen der westgotischen Kirche gebaut, die anstelle des römischen Tempels errichtet worden war. Immer wieder beschwört Rose Macaulay, unter Zuhilfenahme alter Berichte, die Geister der Menschen – Phönizier, Griechen, Karthager, Römer, Goten, Mauren und zuletzt Christen –, die das Land einst bevölkerten. So hat sie für die englische Kolonie Gibraltar nur milden Spott übrig: „Es ist uns nicht gelungen“, schreibt sie, „die mehreren tausend Jahre Vergangenheit dieses Felsens auszulöschen, auf dem unsere weniger als zweieinhalb Jahrhunderte liegen wie ein dünnes aber gewaltiges Palimpsest.“ Statt dessen versetzt sie sich und den Leser zurück in die Zeit, in der die Meerenge von Cádiz das Ende der zivilisierten Welt kennzeichnete. Hinter den Säulen des Herakles begann das mare tenebrosum, voller „Stürme, seltsamer Monster, wilder Stämme, Nebel; es ist bodenlos, grenzenlos, es hebt und senkt sich mit den Gezeiten, es ist kalt und hat hohe Wellen“. Die Grenzen zwischen längst Vergangenem und Gegenwärtigem werden fließend: „Es war eine einschüchternde Vorstellung, sogar für mich, obwohl diese fernen westlichen Gestade schon seit mehr als zweitausend Jahren frei von der Punischen Bedrohung waren.“
Rose Macaulays Blick auf die Dinge ist immer subjektiv, auch wenn – oder gerade weil – sie ihre eigenen Beobachtungen immer wieder mit denen anderer Reisender vergleicht. So kann sie sich für die Architektur Gaudis zum Beispiel überhaupt nicht begeistern und macht aus ihrer Abneigung kein Hehl: „Ernsthafte und kultivierte Menschen finden es schade, daß sowohl Feuer als auch Bomben den großen modernen architektonischen Höhepunkt Barcelonas (bisher) verschont haben, den Stolz seiner einfacheren Bewohner, den Witz für seine gebildeteren, Gaudis unvollendete Kirche der Sagrada Familia. ... Es ist etwas Naives, Rührendes an diesen großartigen Extravaganzen des schlechten Geschmacks... Die romanische Geschmacklosigkeit macht nichts halb; sie besitzt den Mut ihrer Überzeugungen.“
Glücklicherweise beschränken sich Rose Macaulays Betrachtungen dann aber doch nicht so strikt auf die Sehenswürdigkeiten, wie das Vorwort vermuten läßt. Sie erzählt auch von ihren Begegnungen mit den Lebenden. Besonders das Aufsehen, das sie als Auto fahrende Frau allenthalben erregt, gibt ihr häufig genug Anlaß für kleine Anekdoten. Wo immer sie aus ihrem Auto steigt, stets ist sie von einer Horde Jugendlicher umringt, die sie johlend durch die ganze Stadt verfolgen. Macaulay trägt das mit Gelassenheit: „Es ist ihr Nationalsport, und man sollte sich glücklich schätzen, so viel zu einem unschuldigen Vergnügen beizutragen. Zeigt man seine Verärgerung oder Scham, macht man das Vergnügen noch größer. Es ist klüger, die unschlüssige Menge zu entwaffnen, indem man sofort freundschaftliche Beziehungen herstellt, indem man jemanden um Information oder Hilfe bittet oder nach dem Weg fragt. Dann findet man die gesamte Bevölkerung zu seinen Diensten, lächelnd, redend, erklärend, wohin man gehen solle, was man sich ansehen solle, wo man übernachten könne, mit Rufen voller begeisterter Hilfsbereitschaft am Auto ziehend und zerrend, wenn es in einem Sandloch steckengeblieben ist.“
Vorabdruck aus dem „Tranvia“- Juniheft mit dem Thema „Frauen- Reisen nach Spanien und Portugal (1800–1950)“: Gertrude Stein, Cilette Ofaire, Virginia Woolf,
Ida Hahn-Hahn, Maria Lamas u.a.; 9 DM zzgl. Porto (Tranvia, Postfach 303626, 10727 Berlin).
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