: „Die haben immer noch keine Ahnung“
■ Anti-Rassismus-Büro erhebt weitere schwere Vorwürfe gegen die Bremer Polizei / Doppel-dosis Brechmittel, mangelhafte medizinische Versorgung und fragwürdige Voruntersuchungen
Der Streit um den Einsatz von Brechmitteln gegen mutmaßliche Drogendealer geht in eine neue Runde. Das Bremer Anti-Rassismus-Büro (Arab) erhebt neue schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Und es fühlt sich dabei von höchster Stelle bestätigt. Sowohl Recherchen in der medizinischen Fachliteratur als auch Intervies mit EntgiftungsmedizinerInnen aus München und Freiburg, aber vor allem ein Gespräch mit dem Leiter des Bremer Instituts für Rechtsmedizin haben das Arab in seiner Kritik bestärkt: Die Bremer Polizei hat bei der Verabreichung des Brechmittels „Ipecacuanha“ mit der Gesundheit der Festgenommenen gespielt, und sie tut das nach wie vor.
Vorwurf Nummer eins: Die Bremer Polizei verabreicht nicht nur ein Brechmittel, sondern gleich zwei hintereinander. In einer Vorlage für die Justizdeputation hatten die Beamten den Einsatz noch einmal detailliert beschrieben. Danach werde erst „Ipecacuanha“ gegeben, um möglicherweise verschluckte Rauschgiftpäckchen ans Tageslicht zu befördern. Doch die anhaltende Wirkung des Medikaments und die möglichen körperlichen Folgeschäden scheinen auch den Behörden nicht ganz geheuer zu sein. Denn der leitende Oberstaatsanwalt Jan Frischmuth hat angewiesen: „Das Brechmittel ist vollständig aus dem Magen zu entfernen, ggf. durch die Zugabe weiterer Flüssigkeit (Salzwasser).“ Außerdem sollen die Festgenommenen reichlich Flüssigkeit zu sich nehmen, um das Medikament herauszuspülen.
Eine dreifach absurde Situation, sagt das Arab, und eine gefährliche obendrein. Absurd, ein Brechmittel, nämlich Salzwasser, zu geben, um ein anderes, „Ipecacuanha“, aus dem Magen zu bekommen. Absurd, weil die viele Flüssigkeit dazu führe, daß das Medikament in den Darm gedrückt werde und somit eher mehr vom Körper aufgenommen werden könne. Absurd, weil das Medikament gar nicht vollständig entfernt werden könne. Mittlerweile gebe es eine ganze Reihe medizinischer Untersuchungen, die beweisen, daß nur ein Teil des zuvor gegebenen Mittels erbrochen wird. Die Zahlen schwankten zwischen 20 und 80 Prozent. Entsprechend viel bliebe drin.
Wenn das Medikament zu gefährlich ist, warum geht es dann nicht gleich mit Salzwasser, könnte man fragen. Das hat einen Grund: Die Vergabe von Salzwasser ist in der klinischen Toxikologie verboten, hat das Arab bei seinen Recherchen bei diversen Entgiftungsstationen der Republik herausbekommen. Nirgendwo werde gar „Ipecacuanha“ und Salzwasser zusammen verabreicht – außer in Bremen. Matthias Brettner vom Arab: „Die haben hier immer noch keine Ahnung.“
Vorwurf Nummer zwei: Vom August 1994 bis zum Jahreswechsel ist der Brechmitteleinsatz ohne die nötige medizinische Sorgfalt durchgeführt worden. Anfang vergangener Woche hat Matthias Brettner mit Michael Birkholz telefoniert. Birkholz ist Chef des Bremer Instituts für Rechtsmedizin, seit Anfang des Jahres ist er der Mediziner, unter dessen Überwachung das Brechmittel verabreicht wird. In diesem Telefongespräch habe Birkholz die Vergabepraxis des vergangenen Jahres beschrieben. Nachdem im August der Polizeiarzt nicht mehr mit der Vergabe betraut worden sei, habe die Polizei „eine lockere Truppe“ von niedergelassenen Ärzten gebildet, die nach Bedarf eingesetzt worden sei. Dann seien die Mittel in diversen Revieren gegeben worden. „Absolut unverantwortlich“ sei diese Praxis gewesen, so habe Birkholz kommentiert, sagt der Vertreter des Arab. Auf den Revieren habe nämlich die ärztliche Norfallausrüstung schlicht gefehlt.
Vorwurf Nummer drei: Die Notfallausrüstung gibt es mittlerweile, doch trotzdem gebe es noch reichliche Mängel in der medizinischen Versorgung, so das Arab. Vor der Vergabe sei eine eingehende Befragung der Festgenommenen nach Vorerkrankungen dringend erforderlich, um mögliche Schädigungen durch das heftige Erbrechen ausschließen zu können. Doch weder liegen die Check-Listen in Übersetzungen vor, noch stünden ÜbersetzerInnen zur Verfügung. Das machten die ÄrztInnen oder PolizistInnen. Ob die genügend Englischkenntnisse besäßen, medizinisches Fachchinesisch zu übersetzen, und ob die Festgenommenen das dann auch verstehen könnten, daran hat das Arab erhebliche Zweifel. Fazit des Arab: „Die angeblich ,vorbildliche– Anamnese ist ein Witz.“
Am Mittwoch sollen alle alten und neuen Vorwürfe in einer öffentlichen Diskussion zwischen Arab und den Verantwortlichen ausgebreitet werden, auf Einladung der ÖTV-RichterInnen und StaatsanwältInnen. 16.00 Uhr, Landgericht, Saal 231 J.G.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen