Anderthalb Quadratmeter Istanbul

Der Tarlabasi-Boulevard ist die Grenze zwischen der modernen, schicken Metropole und dem Viertel der zugewanderten Habenichtse, die sich nur in der Musik begegnen. Ein Porträt Istanbuls  ■ Von Ömer Erzeren

Der Uringestank aus dem Kellergewölbe dringt nach oben. Überall schwirren Fliegen umher. Der Putz bröckelt von den Wänden. Das Zimmer mag vielleicht zwanzig Quadratmeter groß sein. In alle vier Wände sind Nägel gehauen worden. Dutzende Männerhosen, Hemden und Plastiktüten sind daran aufgehängt. Auf dem Boden liegen alte Teppichfetzen, zusammengerollte Matratzen, Decken, ein kleiner Gaskocher und ein halbes Dutzend Schuhputzkästen. In der Mitte des Raumes steht eine große Mülltonne. Einzige Dekoration: ein gerahmtes Foto – ein schwarzes Zelt, eine Schafherde, grüne Weiden und Wälder. Dies ist Ahmets Istanbul. An diesem Ort haust er mit neun erwachsenen Männern und drei Kindern. „Gottlob hat mich mein Onkel aufgenommen“, sagt Ahmet. Ahmet war acht Jahre alt, als er aus einem kurdischen Dorf nach Istanbul kam. Heute ist er neunzehn Jahre alt. Und noch immer ist sein Onkel Weggefährte und Zimmergenosse. Für das verfallende Zimmer zahlen die Männer umgerechnet rund hundert Mark.

Unmittelbar nach seiner Ankunft in Istanbul ist Ahmet als Schuhputzer in das Berufsleben eingestiegen. „Ich habe in den ersten Wochen halb die Schuhe, halb die Socken der Leute geputzt“, erinnert er sich. „Kac“ (flieh) war eines der ersten türkischen Worte, die er gelernt hat. „Kac, Ahmet, kac!“ riefen die anderen Kinder, wenn die „zabita“, die Beamten der Stadtverwaltung, in Sicht waren. Erbarmungslos wurde der Schuhputzkasten kassiert – man muß tagelang arbeiten, um einen neuen kaufen zu können. „Ich habe mich im Laufe von sechs Jahren als Schuhputzer fast fünfzigmal erwischen lassen“, klagt Ahmet über die vergangenen Zeiten. Einmal wurde nicht nur der Kasten kassiert. Auf der Wache setzte es Stockhiebe auf die Hände. „Laß uns nachher Brot kaufen“, hat Ahmet einmal seinem Freund auf kurdisch zugerufen, der die Schuhe eines Kunden putzte. „Sohn eines Zuhälters, sprich anständig und nicht kurdisch“, erzürnte sich der Kunde. Er war Polizist. Ärger gibt es immer wieder: Razzien der Polizei im kurdischen „Junggesellenzimmer“; Ärger mit den Leuten, die Ahmet am Tagelöhnermarkt anheuern. „Der junge Mann mit der Jeans und Sportjacke hatte uns schon im Auto. Zementsäcke sollten wir tragen. Als wir untereinander ein paar Worte auf kurdisch gewechselt haben, hat er uns rausgeschmissen. ,Ihr seid doch Mörder und Halsabschneider‘, sagte er.“

Ahmet ist einer der Millionen kurdischen Migranten in Istanbul. Aus Anatolien sind seit den fünfziger Jahren ganze Dörfer gekommen. Heute ist die Stadt am Bosporus auf zwölf Millionen Einwohner angewachsen. Die Mehrzahl der Kurden kam in den letzten Jahren. Über zwei Millionen Menschen hat das Militär in den vergangenen Jahren aus ihren kurdischen Dörfern vertrieben. Auch Ahmets Verwandte aus dem Nachbardorf. Das Dorf wurde in Brand gesteckt. Seine Lieblingstante Ayse kocht heute Reis, den ihr Ehemann und ihre Söhne auf einem Karren in den Straßen verkaufen. Sie kamen vor vier Jahren. Doch Ayse hat heute – ganz privilegiert – ein Zimmer allein für sich, ihre fünf Kinder und ihren Ehemann. Die erste Zeit war sehr schwer. Sechs Monate hat sie in dem Kohlenlager eines Hauses übernachtet und mit ihrer Schwester und ihrem Ehemann eine Matratze geteilt. Die Kinder hat sie später nachgeholt. Istanbul ist auch Asyl

Nie wird sie vergessen, daß die anderen Kinder in der Schule ihren Sohn als „Terroristen“ gehänselt haben. Doch Ayse ist eine kluge Frau. „Unter Istanbuls Pflaster soll Gold liegen“, sagt sie. Istanbul ist nicht nur Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung. Istanbul ist auch Asyl. Istanbul ist der Ort, der materiellen Aufstieg verheißt. Istanbul ist neue Heimat.

In Beyoglu, im Zentrum der Stadt, und nicht in den Slums der Peripherie, haben Ahmet und Ayse eine Bleibe gefunden. In den alten verfallenen Häusern der Jahrhundertwende, die die Griechen Istanbuls verlassen haben. Niemand in der kurdischen Nachbarschaft kennt Maria, die einstige Eigentümerin des Hauses, wo Ayse wohnt. Nur der alte, arme Grieche fünf Häuser weiter erinnert sich noch. „Maria, lebt sie überhaupt noch? Ist sie nicht längst in Athen gestorben?“ Irgendeine von vielen Marias, die ihre Koffer gepackt und gegangen sind, nachdem der chauvinistisch aufgestachelte Pöbel am 6. und 7. September 1955 griechische Kirchen in Brand steckte und Geschäfte plünderte. Biographien sind kurzlebiger als steinerne Häuser. Das verwahrloste Haus der geflüchteten Maria steht immer noch. Heute wohnt die aus Kurdistan geflüchtete Ayse darin. Der Eigentümer ist jetzt ein Kurde. „Ein übler Mietwucherer. Es gibt auch böse Kurden“, sagt Ayse. Ahmet und Ayse kennen keinen einzigen gebürtigen Istanbuler. Keinen Türken, Juden, Armenier oder Griechen. Einen armen Armenier aus dem südöstlichen Sirnak – einst armenisch, heute kurdisch – kennen sie, der perfekt Kurdisch spricht und ebenfalls nach Istanbul ausgewandert ist. In der Klassengesellschaft verkehren die Klassen nicht untereinander. Doch in Istanbul ist Vorsicht geboten. Der armenische Schriftsteller Migirdic Margosyan ist ein ehrwürdiger Herr, von dem man annimmt, daß er gebürtiger Istanbuler ist. Aber er ist in der armenischen Gemeinde unter Kurden in Diyarbakir aufgewachsen. Zwei Kurden wähnten sich in den Straßen von Beyoglu in Sicherheit, als sie auf kurdisch über ihn spotteten. Margosyan hat es ihnen gegeben – auf kurdisch.

Der Stadtteil Beyoglu, das einstige Pera, war früher eine Einheit. Noch Anfang des Jahrhunderts war es während der Belle Époque das reiche Zentrum der Großbürger, wo die feinen Damen mit ihren Hüten und Sonnenschirmen auf den Straßen flanierten. Der ehemalige Bürgermeister Bedrettin Dalan, mit dem Spitznamen „Beton-Dalan“, hat in den achtziger Jahren Beyoglu gespalten. Er ließ Hunderte Häuser abreißen, um eine sechsspurige Schnellstraße quer durch Beyoglu zu legen. Der Tarlabasi-Boulevard trennt heute die Ghettos. Den Abhang hin zum Goldenen Horn haben die Migranten, die Kurden, die Anatolier, die Habenichtse bekommen. Auf der anderen Seite des Tarlabasi-Boulevards, entlang der Grande Rue de Pera, der heutigen Istiklal Caddesi, sollte Modernität und Reichtum angesagt sein. Welcher Zynismus, daß viele das Verlassen ihres Ghettos mit dem Leben bezahlen mußten. Dutzende Fußgänger wurden in den vergangenen Jahren von Autos überfahren, als sie versuchten, den Tarlabasi-Boulevard zu überqueren.

Die Straße Istiklal Caddesi mit ihren prächtigen Jugendstilbauten ist heute Fußgängerzone: Kinos, Boutiquen, Restaurants und Straßencafés. Selbst um Mitternacht ist die Straße voller Menschen. Die Kneipen, ja selbst einige Geschäfte, haben geöffnet. Läden, die Bücher, CDs und Musikcassetten verkaufen, sind in den letzten Jahren „in“. In einem Restaurant spielt klassische osmanische Musik. Die byzantinischen Töne der Musik sind unüberhörbar.

Istanbul ist musikalische Mischung

Hundert Meter weiter erklingt das Lied der türkischen Popsängerin Sezen Aksu: „Die Hände sind sündig. Die Zungen sind sündig.“ Doch welch musikalische Mischung in den Liedern! Kommt nicht Rembetiko zum Vorschein? Die Musik anatolischer Griechen, die später in Griechenland von der Junta verboten wurde. In einer Musikkneipe spielt eine Gruppe Lieder auf spanisch. Musik der spanischen Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts vor Verfolgung im katholischen Spanien flüchteten und vom osmanischen Sultan Bayazid, dem frommen Muslim, in Istanbul aufgenommen wurden. Der CD-Laden um die Ecke verkauft Cassetten der kurdischen Rockgruppe Ciwan Haco. Auch über Rock finden die Klänge Mesopotamiens Eingang in die Stadt. Der größte Buch- und CD-Laden auf der Istiklal heißt „Mephisto“ – postmodernes Metall und Glas, ein fortschrittliches Büchersortiment und größte CD-Auswahl. Um Mitternacht lassen sie die „Internationale“ auf französisch dröhnen. Ayses Sohn, der heute auf der Istiklal- Straße gefüllte Muscheln mit Reis an Betrunkene verkauft, ist müde. Er wird den Tarlabasi-Boulevard überqueren müssen: zurück ins Ghetto. Es gibt in dieser Stadt keinen Kompromiß für Gemeinsames, es gibt nur das Nebeneinander.

Der Kurde Ahmet sieht noch keine Zukunft. Doch er hat noch nicht soviel Lebenserfahrung, wie mein Nachbar Odyseia, der vor vier Jahren gestorben ist. Im ersten Weltkrieg haben sie ihn als Griechen in ein Strafbataillon gesteckt. Ohne Waffen mußte er in den Krieg. Er hat überlebt. Istanbul war seine Heimat. Er hat den nationalistischen Übergriffen, die die Herrschenden inszenieren ließen, Widerstand geleistet. Er hat nie klein beigegeben. Die Kinder haben Istanbul verlassen. Doch er blieb. Er war Lastenträger und soll einst stärkster Mann in unserer Nachbarschaft gewesen sein. Noch als alter Mann mit 85 Jahren hat er sein Brot mit Schuhputzen verdient. Odyseia glaubt immer noch: „Eines Tages werden die Schwachen die Starken und die Starken die Schwachen sein.“