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Es gab viele Rufer in der Wüste

■ Ein Sammelband zu den Wegbereitern der chinesischen Demokratiebewegung

Richtig, da war was: Am 4. Juni vor sechs Jahren fand jenes „Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking statt, das inzwischen – brav dem Sprachgebrauch der augenblicklich sehr nervösen Immer-noch-Herrschenden im vielumworbenen „Reich der Mitte“ folgend – zu den „Juni- Ereignissen“ geschrumpft wurde. Zwar ist die Anzahl der Opfer noch immer umstritten, zwar büßen noch immer zahlreiche Namenlose in den Gefängnissen der Volksrepublik für ihre widerspenstige Zivilcourage, doch was soll's – das Leben geht weiter und die Geschäfte auch ...

Daß „die Ereignisse“ des Frühjahrs 1989 nicht aus heiterem Himmel geschahen, sondern einen jahrelangen Vorlauf hatten, daß sie an den Universitäten und in staatlichen Forschungsinstituten, in den Diskussionszirkeln „demokratischer Salons“ und in erstaunlich kritischen Zeitungsreportagen vorbereitet wurden, das macht der Band der Bochumer Sinologen Helmut Martin und Ines-Susanne Schilling mit zwölf Biographien prominenter chinesischer Oppositioneller deutlich. Als eine der letzten großen Publikationen eines nunmehr abgeschlossenen interdisziplinären Forschungsprojektes über die Modernisierungsprozesse im chinesischen Sprachraum, versammelt der Titel „Stimmen der Opposition“ Beiträge von über einem Dutzend Mitarbeitern, darunter zahlreiche Chinesen.

Den Herausgebern ging es um die intellektuellen Biographien jener Wegbereiter der Demokratiebewegung, die bereits über einen längeren Zeitraum hinweg durch ihre Schriften gewirkt hatten, bevor sie dann im Rahmen der Demonstrationen des „Zweiten Pekinger Frühlings“ auch vor einer breiteren Öffentlichkeit auftraten. Deshalb fehlen hier solche Ikonen wie die gerade wieder prophylaktisch inhaftierten Arbeiter- bzw. Studentenführer Wei Jingsheng und Wang Dan. Portraitiert werden statt dessen: der Literaturwissenschaftler und Polemiker Liu Xiaobo, der zeitweilig als „chinesischer Sacharow“ apostrophierte Astrophysiker Fang Lizhi, der dieser Tage erst als Initiator einer neuen Menschenrechtspetition an die chinesische Regierung unter Hausarrest gestellte Wissenschaftstheoretiker Xu Liangying, der Philosoph Li Zehou, der erste Vorsitzende der Exil-Organisation „Föderation für ein Demokratisches China“, Yan Jiaqi, der widerspenstige Shanghaier Schriftsteller Wang Ruowang, der Nestor der Reportage-Literatur, Liu Binyan, die Shanghaier Journalistin Dai Qing sowie der Journalist und Autor der vieldiskutierten Fernsehserie „Heshang – Elegie auf den Gelben Fluß“, Su Xiaokang.

Neben diesen kritischen Köpfen aus der Volksrepublik beziehen die Autoren bei der Dokumentierung der Einflüsse auf die geistigen Strömungen in China zu Recht auch Oppositionelle aus Taiwan ein. So lenken sie den Blick exemplarisch auf den jahrzehntelang exilierten Historiker Shi Ming, die sich als Mittlerin zwischen Taiwan, der Volksrepublik und den Auslandschinesen verstehende Schriftstellerin Chen Ruoxi sowie auf den Publizisten Bo Yang, der mit seinem ebenso polemischen wie einprägsamen Bild von der „Sojasaucenfaß-Kultur Chinas“ in ganz greater China Staub aufwirbelte.

Der Band wartet in den sehr ausführlich gehaltenen Lebensgeschichten mit Details auf, die selbst für informierte China-Kenner völlig neu sind. Manch widersprüchlicher Lebenslauf tut sich da auf, etwa vom Altkommunisten zum unerschrockenen, mehr (Wang Ruowang) oder weniger (Liu Binyan) konsequenten Regimegegner oder vom gläubigen Rotgardisten der Kulturrevolution zum scharfzüngigen Kulturkritiker der Reformperiode (Liu Xiaobo). Trotz qualitativer Unterschiede zwischen den einzelnen Beiträgen: Hier wird für den deutschen Leser ein spannendes Geflecht der geistigen und persönlichen Beziehungen zwischen chinesischen Intellektuellen dreier Generationen erkennbar, fächert sich ein breites Spektrum von Herangehensweisen an den in der innerchinesischen Diskussion immer noch verschwommen gebliebenen Begriff der „Demokratisierung“ auf. Die Reizworte reichen von „Neoautoritarismus“ bis hin zu „Föderalismus“ und „Gewaltenteilung“. Anhand der am Ende der jeweiligen Beiträge aufgeschlüsselten umfangreichen Primär- und Sekundärliteratur läßt sich noch einmal der verschlungene Verlauf jener Debatte um die „Reform der Reform der Revolution“ nachvollziehen, die mit dem 1989 blutig niedergeschlagenen Massenprotest auf dem Tiananmen-Platz in Peking ein vorläufiges Ende fand.

Viele der hier gewürdigten Protagonisten der Bewegung wie Yan Jiagi oder Fang Lizhi leben derzeit im Ausland, vor allem in den USA und in Frankreich. Anfangs meist noch aktiv in neugegründeten Exilvereinigungen, sind sie inzwischen häufig politisch verstummt und halten sich von den (selbst-)mörderischen Fraktionskämpfen unter den einstigen Weggefährten fern. Andere haben sich – schlichtweg privatisierend – wieder in ihre eigentlichen Forschungsgebiete vertieft. Ihre Ideen florieren jedoch weiterhin in den Köpfen zahlreicher Intellektueller in der Volksrepublik China, seien es nun oppositionelle Kräfte oder auch jüngere KP-Kader, die sich auf die Zeit nach Deng Xiaoping vorbereiten. Für jeden, der sich ein Bild von dem Ideenfundes noch längst nicht abgeschlossener Prozesse machen will, ist dieses Buch unverzichtbar. Christiane Hammer

Helmut Martin/Ines-Susanne Schilling (Hrsg.): „Stimmen der Opposition. Chinesische Intellektuelle der achtziger Jahre“. Brockmeyer, 1995. 335 S., 49,80 DM

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