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Chinas unbekannte Straflager

Nach dem Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 verschwanden zahlreiche Menschen / Ein neues Buch des französischen Politologen Jean-Luc Domenach bringt Licht in die Geschichte und das Dunkel des chinesischen „Archipels“  ■ Von Jutta Lietsch

Wie in jedem Juni seit 1989 wimmelt es auf dem Pekinger „Platz des Himmlischen Friedens“ wieder von scharfäugigen Damen und Herren in ziviler Straßenkleidung. Sonnenbebrillte Fremdlinge lungern demonstrativ vor den Wohnungen bekannter Dissidenten, auch wenn diese längst abgeholt worden sind. Verwandte und Freunde laufen zur Polizei, um herauszufinden, wo die Festgenommenen geblieben sind. Trotz aller Einschüchterungsversuche suchen sie nach Telefonnummern ausländischer Journalisten, um die Namen der Abgeholten und die Umstände der Verhaftung durchzugeben, sie so vor dem Totschweigen zu schützen.

Wie jedes Jahr seit der Niederschlagung der letzten Demokratiebewegung treten aber auch ChinesInnen mit Petitionen an die Öffentlichkeit. Sie fordern von der Regierung Informationen über den Verbleib der „Verschwundenen“, die – wie der bekannteste Regimekritiker Wei Jingsheng – schon seit Monaten oder Wochen in irgendeiner Polizeizelle, einem Gefängnis oder Arbeitslager stecken. Irgendwo ganz in der Nähe oder tausend Kilometer entfernt.

Etwas aber hat sich in diesem Frühsommer verändert: Es fehlen die um diese Zeit sonst üblichen offiziellen Berichte über politische Gefangene, die aufgrund ihrer „guten Führung“ oder „Einsicht in politische Irrtümer“ vorzeitig aus der Haft entlassen werden. Diese an die Weltöffentlichkeit gerichtete Geste hält die Pekinger Regierung wohl für überflüssig, nachdem US-Präsident Bill Clinton 1994 erklärte, von nun an werde seine Regierung die Handelsbeziehungen zu China unabhängig von der Respektierung der Menschenrechte entwickeln. Bald nach dieser Ankündigung bestätigte sich auch, daß die chinesische Regierung die Forderungen von Gruppen wie amnesty international oder Human Rights Watch keineswegs erfüllen wird: nämlich Zugang zu den Gefängnissen und Straflagern des Landes für internationale Beobachter.

Niemand weiß, wie viele Haftanstalten und Lager es in China gibt, und niemand kennt die exakte Zahl der Gefangenen, seien es politische oder „gewöhnliche Kriminelle“. Dies ist ein Staatsgeheimnis. Zwar ist der Schleier der Propaganda und des Schweigens, der über diesem Thema liegt, mit der wirtschaftlichen und politischen Öffnung seit Ende der 70er Jahre durchlässiger geworden. Doch das von internationalen und chinesischen Menschenrechtsorganisationen gesammelte Wissen bleibt bruchstückhaft. Es stützt sich auf Berichte ehemaliger Gefangener, Flüchtlingsinterviews, offizielle Dokumente und ins Ausland gelangte interne Papiere sowie – seit Beginn der 80er Jahre – auf Recherchen mutiger chinesischer JournalistInnen und WissenschaftlerInnen.

In jahrelanger Forschungsarbeit hat der französische Sozialwissenschaftler Jean-Luc Domenach die so erhaltenen Informationen zusammengetragen. Wie konnte es geschehen, fragt er in seinem jetzt in deutscher Sprache (aber schon 1992 in Frankreich) erschienenen Buch „Der vergessene Archipel: Gefängnisse und Lager in der Volksrepublik China“, daß der Westen Jahrzehnte fast nichts über das riesige chinesische Strafsystem wußte? Wie hat es in den unterschiedlichen Phasen der kommunistischen Herrschaft funktioniert? Und was verrät das Gefängnissystem in China über die ideologischen Grenzen seiner Regierenden? Das System der chinesischen Lager „gemahnt an eine isolierte Inselwelt“, schreibt Domenach, „die den Winden und Strömungen der totalitären Politik schutzlos preisgegeben sind. Aus diesem Grund haben wir zu seiner Definition das von Solschenizyn geprägte Wort ,Archipel‘ ausgewählt.“

Anders als der sowjetische Gulag aber sollte das von den chinesischen Kommunisten geschaffene Haftsystem nicht hauptsächlich der Vernichtung Mißliebiger und der massenweisen Zwangsarbeit dienen. Das von Mao Zedong angestrebte Ziel war viel weitgehender: So wie die Gesellschaft draußen durch eine ständige Mobilisierung der Massen umgeformt werden würde, so sollten die „Feinde des Volkes“ effektiv zu neuen Menschen erzogen werden, zu gefügigen und willigen Werkzeugen. Das klappte nicht. Trotz Grausamkeit und Folter in den Gefängnissen und Lagern und trotz des nervenzerrüttenden Systems politischer Indoktrination gab es immer wieder Widerstand; es gab Massenfluchten und Häftlingsaufstände, die oft mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurden.

Der Autor beschreibt das Lagersystem dreier großer Perioden. Zuerst die Jahre des Aufbaus 1949–57: Zeit der Abrechnung mit den Kriegsverbrechern und Anhängern der im Bürgerkrieg geschlagenen Nationalisten; Kollektivierung auf dem Lande und „Säuberung“ in den Städten – in dieser Zeit wird das Prinzip der „Gedankenreform“ mit dem der Zwangsarbeit theoretisch und praktisch verbunden. Darauf folgt die Periode der großen Kampagnen und wirtschaftlichen Katastrophen von 1958–71: Zeit innerer Säuberungen, der politisch verursachten Hungersnot und der Kulturrevolution, in der sich die Lager erneut füllten. Und dann die Phase seit den 70er Jahren, in der in China nicht mehr zu ignorieren war, daß die Lager weder neue Menschen produzierten noch wirtschaftlich erfolgreich arbeiteten.

Nützlich ist aber nicht nur der Versuch des Autors, die spezifische Ausprägung des chinesischen Totalitarismus in seinem Strafsystem zu beschreiben. Das Buch bietet eine enorme Vielfalt von Informationen, die allerdings häufig etwas verwirrend geordnet sind. Es beschreibt die verschiedenen Formen des Haftsystems – von zahlreichen Arten des Polizeigewahrsams über Erziehungs- und Arbeitslager zu Gefängnissen – und der Entwicklung seiner gesetzlichen und institutionellen Grundlagen. Es berichtet über den Lageralltag, die Verhörpraktiken und die wirtschaftliche Lage von Gefängnissen. Es zeigt, wie willkürlich Menschen verhaftet – und manchmal auch wieder entlassen – werden konnten: „Der Student Zhang Langlang zum Beispiel, der 1968 festgenommen worden war, erhielt 1974 gleichzeitig seinen Haftbefehl, sein Urteil und seine Begnadigung.“

Für viele Häftlinge aber war der Weg ins Arbeitslager ein Weg ohne Wiederkehr. Wenn ihre Strafzeit abgelaufen war, konnten die Lagerleiter sie nach Gutdünken verlängern. Wie es die orwellsche offizielle Sprachregelung verlangte, „baten die Häftlinge darum“ nach Beendigung ihrer Strafe, als „freie Gefangene“ weiter im Lager leben und arbeiten zu dürfen. So wie die Insassen eines Arbeitslagers während der Zeit der großen Hungersnot Ende der 50er Jahre „darum baten“, ihre Essensrationen zu senken. Immer wenn die Regierung in Peking Hungerunruhen in den Städten befürchtete, füllten sich die Arbeitslager – oder die mit ihnen verbundenen Staatsfarmen in entlegenen Teilen des Landes. Wer einmal im Lager war und freigelassen wurde – oder auch nur Verwandte hatte, die inhaftiert gewesen waren –, lebte prekär: bei jeder neuen politischen Kampagne galten sie als unsichere Elemente, die der besonderen „Kontrolle“ der Gesellschaft unterworfen werden mußten. In den 50er Jahren gab es Richter und Staatsanwälte, die sich weigerten, den Anweisungen von Parteifunktionären zu folgen und deren Opfer ohne gesetzliche Grundlage ins Gefängnis zu werfen, schreibt Domenach. Doch schon 1959 wurden das Justizministerium ebenso wie die Rechtsfakultäten an den Universitäten abgeschafft. Polizei und Parteiorgane brauchten jetzt nicht mehr den Umweg über umbequeme Juristen zu nehmen, wenn bei politischen Kampagnen wieder Quoten „gesäuberter“ Volksfeinde zu erfüllen waren. Erst Ende der 70er Jahre wurde diese Maßnahme rückgängig gemacht.

In China waren im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung weniger Menschen interniert als in anderen totalitären Staaten, in der Sowjetunion oder auch in Nazi-Deutschland. Domenach erklärt dies damit, daß die totalitäre Überwachung in China viel effektiver gewesen sei als in der Sowjetunion. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung waren rund 1,75 Prozent der Gesamtbevölkerung (damals etwa 560 Millionen Menschen) inhaftiert. Mitte der 80er Jahre – Chinas Bevölkerung hatte sich fast verdoppelt – waren es 0,53 Prozent (in der UdSSR 1980 noch fast ein Prozent). „Wenn in China weniger Menschen hinter Stacheldraht wanderten, so vor allem deshalb, weil dort das Gefängnis des Alltags besser funktionierte“, schreibt der Autor. Er schätzt die Zahl der Häftlinge heute auf 4 bis 6 Millionen, und nur ein kleiner Teil davon sind politische Gefangene. Wie viele es genau sind, weiß niemand.

Jean-Luc Domenach, „Der vergessene Archipel. Gefängnisse und Lager in der Volksrepublik China“, Hamburger Edition 1995, 337 Seiten, 68 DM

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