: Das Prinzip Heimatlosigkeit
■ "Ich bin ein internationaler Gringo": Ein Gespräch mit Jeanine Meerapfel über ihren neuen Film "Amigomio", die Höhenkrankheit und den Mythos Lateinamerika
Amigomio“, das ist das Lateinamerika der siebziger Jahre, eine Vater-Sohn-Geschichte, ein Roadmovie. Carlos Ex-Frau wird von den Militärs verschleppt, der eher unpolitische Carlos muß mit seinem Sohn fliehen. Die Reise führt von Argentinien über Bolivien und Peru nach Ecuador und ähnlich wie „Lamerica“ nicht zu einer Selbstvergewisserung, sondern zu einem heilsamen Identitätsverlust, vor allem zur Auseinandersetzung mit dem linken Mythos vom Land der Revolutionen. Die Filmemacherin Jeanine Meerapfel und ihr Co-Regisseur Alcides Chiesa sind in Argentinien als Kinder europäischer Emigranten aufgewachsen. Chiesa überlebte trotz politischer Gefangenschaft die Militärdiktatur, mußte danach aber aus ökonomischen Gründen das Land verlassen. Jeanine Meerapfel ging mit 20 wegen des Filmstudiums nach Deutschland – und weil sie von zu Hause wegwollte. Das, sagt sie, sei eine freiwillige Entscheidung gewesen und nicht zu vergleichen mit der Reise, die Carlos und sein Sohn Amigomio antreten müssen.
taz: Amigomio“ handelt vom Verlust und der Suche nach Heimat, ein Begriff, der neuerdings wieder in Mode kommt. Warum ist „Heimat“ für Dich ein Thema?
Jeanine Meerapfel: In „Amigomio“ geht es weniger um Heimat als um Heimatlosigkeit. Es ist eine Parabel über Entwurzelung, über die Sehnsucht, die einem die Augen und Ohren öffnet und eben nicht verschließt nach dem Motto: Hier ist mein Platz, da ist die Grenze und wer die übertritt, ist mein Feind. In „Amigomio“ müssen sich drei Generationen aus politischen Gründen ein neues Zuhause suchen: Carlos' jüdische Eltern, die von Deutschland nach Argentinien auswandern, Carlos selbst, der wegen der Militärdiktatur von Argentinien nach Ecuador ins Exil geht, und Carlos' Sohn, der zum Ecuadorianer wird und bei der Rückkehr nach Argentinien erneut Entwurzelung erlebt. Diese Bewegung des Suchens läßt einen verstehen, daß der enge, nationalistische Heimatbegriff etwas sehr Zweifelhaftes ist und daß man Heimat immer neu definieren muß. Exil und Vertreibung gehören ja zu den großen Themen unseres Jahrhunderts.
Carlos' Vater, wie ihn Mario Adorf spielt, wirkt sehr heimisch und gar nicht wie ein Fremder im Exil. Carlos hingegen, der in Argentinien aufgewachsen ist, sagt ziemlich unglücklich: „Ich bin ein internationaler Gringo.“
Das liegt an den unterschiedlichen historischen Situationen: Der Vater liebt Argentinien, weil das Land ihn in einer Zeit der Not aufgenommen und ihm Freiheit garantiert hat. Mein Vater war ein argentinischer Patriot. Für Carlos ist Argentinien die Militärdiktatur, die noch dazu seine Frau verschleppt hat. Deshalb fragt er sich auf der Flucht: Wer bin ich eigentlich? Ich bin weiß, blond, ein deutscher Nachkomme, und ich träume von einem großen, vereinten, revolutionären Lateinamerika. Zum ersten Mal sind seine politischen Ideale mit der Realität konfrontiert, und er merkt: Sie sind reine Theorie. Er ist ein Gringo, das heißt, er ist fremd, er spricht nicht einmal die Indio-Sprache. Er hat einen Kulturschock.
Ist Carlos naiv oder ist es normal, daß argentinische Intellektuelle so wenig über das wirkliche Lateinamerika wissen?
Carlos weiß eine ganze Menge. Das Problem ist das tatsächliche Erleben. Was gibt man im bolivianischen Potosi seinem Kind zu essen, wenn dort, auf 4.000 Meter Höhe, unsere Verdauung kaum noch funktioniert? Die Indios bringen einem bei, daß man gegen die Höhenkrankheit Coca kauen muß und sich gegen das Nasenbluten Petersilie in die Nase stopft. Natürlich hatten auch Alcides Chiesa und ich idealistische Vorstellungen von Lateinamerika. Unsere erste Reise zur Vorbereitung des Drehbuchs war genauso ein Kulturschock, denn auch wir waren Gringos. Vieles, was Carlos auf seiner Reise erlebt, ist uns selbst widerfahren, bis hin zu den Figuren, denen er begegnet. Diese Auseinandersetzung war für mich ernüchternd und sehr bereichernd. Auf der einen Seite können wir zwar die Bilder und Töne mitnehmen, können aufnehmen und wiedergeben, aber verändern können wir so ohne weiteres nichts. Auf der anderen Seite ist gerade das Hochplateau von Potosi ein magischer Ort, und es war wunderbar zu begreifen, daß es etwas ganz anderes ist als das europäisch anmutende Buenos Aires, aber daß ich trotzdem ein bißchen dazugehöre.
Im Silberberg von Potosi spielt eine zentrale Szene, die Schlachtung des Lamas für Mutter Erde. Warum habt Ihr das Indio-Ritual in die Filmhandlung eingebaut?
Man sieht dort die Adern von Lateinamerika. Die Stadt war eine der reichsten, schönsten Koloniestädte, das Paris Lateinamerikas. Man hat in Silber gebadet. Die Häuser sind alle noch da, aber der Reichtum ist weg. Und der Berg ist wie ein Schweizer Käse, vom Silber- und Zinkabbau völlig durchlöchert. Man sieht dort wirklich die Geschichte und die Ausbeutung: einen Berg, der Wunden hat. Die Szene steht in der Tradition des magischen Realismus. In dieser Höhe beginnt man ja tatsächlich zu phantasieren. Das war unser Erzählprinzip: Die Phantasie so ernst zu nehmen wie die Realität.
Es gibt mehrere „unwirkliche“ Szenen und überzeichnete Figuren: den linken, christlichen Prediger Christoph oder die Guerilleros bei ihrer Nacht- und Nebelaktion. Wolltet Ihr damit die Revolutionsromantik aufs Korn nehmen?
Wir wollten über uns selbst lachen und unserer eigenen Generation den Spiegel vorhalten, unseren Träumen und politischen Schlagworten, die ja sehr wenig bewirkt haben. Wenn Carlos sich vorstellt, daß die bolivianischen Bauern im Bus über Marx diskutieren, gehört viel Melancholie dazu, und genau das wollten wir ironisch brechen. Einer der größten Fehler von uns Linken war, daß wir Politik nie mit Humor gesehen haben.
Die Geschichte spielt in den siebziger Jahren, während der Militärdiktatur. Der Film wurde nach der letzten Generalamnestie für die argentinischen Militärs gedreht; es ist ein Film gegen das Vergessen. Gibt es in Argentinien auch Stimmen, die sagen: Laßt uns mit der Vergangenheit in Ruhe?
Natürlich gibt es die, und die konservative Presse hat unseren Film abgelehnt. Aber die Phantome der Vergangenheit tauchen wieder auf. Vor ein paar Monaten erzählte ein Marineoffizier im argentinischen Fernsehen, daß er dabei war, wie die Militärs ihre Opfer aus Flugzeugen lebend ins Meer geworfen haben – mindestens 1.000 Menschen. Ein paar Wochen später erzählte der Nächste: Ja, wir haben gefoltert. Keiner sagt dazu: Es war Unrecht. Aber nach 20 Jahren ist der psychische Druck offenbar so groß, daß sie von ihren Verbrechen öffentlich erzählen müssen. Man kann die Geschichte nicht verleugnen, solange es keine Gerechtigkeit gibt.
Das Gespräch führte
Christiane Peitz
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