: Gedenken an Katyn ohne russische Politiker
■ Jelzin hält „Emotionen“ über Massaker an Tausenden Polen für „nicht dienlich“
Berlin (taz) – Zum Gedenken des Massakers von Katyn, wo sowjetische Einheiten vor 55 Jahren Tausende Polen hinrichteten, wollen Rußlands Politiker nun doch nicht erscheinen. „Die Emotionen, die manche Kreise und Medien in Polen um Katyn schüren, und die Eskalation der Forderungen von einer Entschuldigung bis hin zu Entschädigungen sind der Sache nicht dienlich“, begründete Rußlands Präsident Boris Jelzin die Absage an seinen polnischen Amtskollegen Lech Walensa. Der russische Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin wird bei der Gedenkfeier am Sonntag ebensowenig zugegen sein wie der Schriftsteller Alexander Solschenizyn, der erklärt hat, daß ihn die gegenwärtigen Nöte Rußlands mehr bewegten als die Vergangenheit.
Eigentlich hatten Jelzin und Walesa geplant, den Grundstein für die polnisch-russische Gedenkstätte im Wald bei Smolensk gemeinsam zu legen. Die Gedenkfeier für die im Frühjahr 1940 vom russischen Geheimdienst NKWD umgebrachten polnischen Offiziere sollte einen neuen Anfang in den polnisch-russischen Beziehungen markieren. Doch seit Beginn des Tschetschenienkrieges häufen sich auf beiden Seiten kleinere unangenehme Vorfälle. Mehrfach wurden Staatsbesuche verschoben und abgesagt. Zuletzt war Walesa demonstrativ nicht zu den Siegesfeiern am 9. Mai in Moskau erschienen.
Dabei war gerade in der Frage „Katyn“ in den letzten Jahren einiges in Bewegung geraten. Im April 1990 hatte Gorbatschow zum ersten Mal zugegeben, daß der sowjetische Geheimdienst NKWD in den Wäldern um Katyn einige Tausend polnische Gefangene erschossen hatte. Bis dahin hatte die sowjetische Führung immer behauptet, die 15.000 verschollenen polnischen Kriegsgefangenen seien von den Nazis im Herbst oder Winter 1941 umgebracht worden. In Wirklichkeit hatte die Wehrmacht das erste Massengrab mit polnischen Offizieren Anfang April 1943 entdeckt. Die Propagandamaschine der Nazis lief sofort an. Goebbels schrieb in sein Tagebuch: „Ich gebe Anweisung, dieses Propagandamaterial in weitestem Umfang auszunutzen. Wir werden einige Wochen davon leben können.“
Die sowjetische Propaganda schlug sofort zurück und bezichtigte die Nationalsozialisten des Mordes an den polnischen Kriegsgefangenen. Man selbst habe die Gefangenen beim Einmarsch der Deutschen 1941 nicht rechtzeitig evakuieren können. Erst am 14. Oktober 1992 kam fast die volle Wahrheit ans Licht: Der russische Präsident Boris Jelzin übergab Lech Walesa zwei Ordner mit Photokopien von bislang streng geheimen Dokumenten aus dem Präsidenten-Archiv.
Das Schlüsseldokument ist die Politbüro-Resolution Nr. 144 vom 5. März 1940. Mit dieser Resolution, unterschrieben von Stalin und anderen, wird der sowjetische Geheimdienst angewiesen, 14.700 polnische Offiziere und andere Kriegsgefangene sowie 11.000 Zivilpersonen, die die Rote Armee nach dem 17. September 1939 gefangengenommen hatte, vor ein Gericht zu stellen und zur Höchststrafe zu verurteilen: Tod durch Erschießen. Die Internierten, so NKWD-Chef Berija in der Begründung, gehörten zum größten Teil der polnischen Intelligenz an, seien Mitglieder von nationalen und konterrevolutionären Parteien oder Widerstandsorganisationen, Land- und Fabrikbesitzer.
Für viele Polen ist der Umgang der Sowjetunion oder jetzt Rußlands mit der Katyn-Frage eine Art Barometer: Ist Rußland tatsächlich bereit, Polen als souveränen Staat anzuerkennen? Wenn dies der Fall wäre, so die Erwartung in Polen, müßte Rußland sich für Katyn entschuldigen.
Doch die russische Regierung tut sich schwer mit einem solchen Schritt. Auch Polen trage Schuld und müsse sich dazu bekennen. Gabriele Lesser
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