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Wer heute ins Grüne fahren will, muß sich den deutschen Straßenraum mit mindestens 39.999.999 Autos teilen (ohne LKWs). Heimlich, still und leise hat das Kraftfahrt–Bundesamt nämlich das vierzigmillionste Auto zugelassen Von Manfred Kriener

40.000.000 mal brumm-brumm

Heimlich, still und leise ist es geschehen, irgendwann in diesem Frühling – und keiner hat's gemerkt. „Ich kann Ihnen die Zahl nicht belegen, aber es ist sicherlich passiert“, sagt Angela Bartholmae vom Kraftfahrt–Bundesamt. Erst im Juli, beim nächsten Halbjahresbericht, wird „es“ dann amtlich festgestellt: Die 40. Million auf deutschen Straßen ist voll. Mit einer „Motorisierungswelle ohne historischen Vergleich“ (Shell-AG) haben die Deutschen nach der Wende einen Zulassungsrekord nach dem anderen aufgestellt. Die Schallmauer von 40 Millionen Autos wurde schneller durchbrochen als allgemein erwartet. Und ein Ende der wachsenden Blechlawine ist nicht in Sicht. Die Zulassungszahlen bleiben auch 1995 auf beängstigendem Niveau. In den ersten vier Monaten des Jahres wurden im Schnitt knapp 300.000 Fahrzeuge neu zugelassen.

Bis zum Jahr 2000 erwartet das Flensburger Amt 43,3 Millionen Autos. Nur zehn Jahre später fahren wir beinahe gegen die nächste Schallmauer: Shell rechnet bis 2010 mit 49 Millionen Autos. Beide Prognosen haben eines gemeinsam: Sie sind vermutlich falsch, weil zu niedrig.

Das hat Methode.

Alle in den letzten zwanzig Jahren vorgelegten Hochrechnungen haben das Wachstumspotential des Autos mit einer einmalig blamablen Versagerquote unterschätzt. Bis heute.

Der Geschäftsführer des Verbandes der Automobil-Industrie (VDA), Achim Diekmann, bleibt dieser Tradition treu. Er sieht erneut „Sättigungserscheinungen“ auf deutschen Straßen. Die heute diskutierten Wachstumsraten des Autoverkehrs, glaubt Diekmann, haben „teilweise bereits stattgefunden“. In den nächsten anderthalb Jahrzehnten „ist nur noch mit einem verhältnismäßig flachen Anstieg der Verkehrsströme zu rechnen“.

Unabhängige Wissenschaftler sehen das anders: Der Darmstädter Verkehrsprofessor Manfred Teschner vermag weder Sättigung noch Trendwende zu erkennen. Den aktuellen Zustand beschreibt er so: „Viele wissen, fühlen, vermuten, befürchten, daß es so nicht weitergehen kann; zugleich stellen sie jedoch fest, daß es tatsächlich so weitergeht.“ Tag für Tag. Für Teschner hat die Automobilität in den reichen Industrieländern längst den Charakter einer „Wohlstandsfestung“ angenommen. Und die ist schwer zu knacken. Trotz 500.000 Verkehrstoten nach dem Krieg, trotz Treibhaus, Waldsterben, Ozonalarm, Flächenfraß, Lärmstreß, Ressourcenplünderung und Selbstblockade des Verkehrs im Stau, trotz täglichem Todeskampf um die Parklücke scheint das Auto seine Massenvermehrung mit fast naturgesetzlichen Steigerungsraten fortzusetzen.

Hat der Wiener Philosoph Peter Sloterdijk doch recht? Ist das Auto „vollkommen immun gegen jede Aufklärung“? Sloterdijk: „Seit zwanzig Jahren führen wir eine ökologische Debatte, und das Automobil steht immer noch strahlend da. Gerade die letzten beiden Jahrzehnte waren eine heroische Zeit der Automobilindustrie, in der das Auto ästhetisch und technologisch explodiert ist.“

Der Autokritiker und Verkehrsprofessor Helmut Holzapfel sieht das anders: Für ihn ist das Auto sichtbar angeschlagen. Auf Tagungen beteuerten Betriebsräte der Branche, daß sie mit der Bahn gekommen seien, Greenpeace- Kampagnen gegen den Polo sorgten für einen echten Absatzknick, die Putz- und Wienerorgie von Papa am Samstagmittag werde immer seltener, die Schweizer Kampagne zur Halbierung des Autobestandes finde ein riesiges Echo – für Holzapfel alles Hinweise für den langsamen Abschied vom „heiligen Blechle“ (Schwabenspott). „Der Enthusiasmus aus der Branche ist raus“, sagt Holzapfel.

Mit weiter steigenden Zulassungszahlen rechnen indes auch die Kritiker. Gegenwärtig boomen vor allem die Freizeitautos. Cabrios, Off-roader, Fun-cars, Vans, Wohnmobile und Kombis machen inzwischen sechs Millionen Fahrzeuge aus. Die panzerartig mit Rammstangen hochgerüsteten Allrad-Pkws nehmen seuchenartig zu. Sie entsprechen, so der Aachener Analytiker Micha Hilgers, infantilen Sehnsüchten von der „uneinnehmbaren Ritterburg“.

Gleichzeitig steigt die Zahl der Zweit- und Drittautos. Die Motorisierung der Frauen nimmt, so die Shell-Studie, weiter rapide zu. Und schließlich wollen auch Opa und Oma nicht auf ihren Turbo verzichten. Die Alten fahren länger und öfter Auto.

Als Ausweg aus dem Verkehrselend haben viele auf die heilsame Wirkung des Staus gehofft, auf den „Sitzstreik aller gegen alle“ (Ulrich Beck). Vergebens. Der immer wieder prophezeite Verkehrsinfarkt oder -kollaps findet als reinigendes Gewitter nicht statt. Nur die Wartezeiten werden länger. Verkehrsplaner Holzapfel hat wiederholt den Begriff „Infarkt“ kritisiert. Das Bild sei falsch: Statt eines plötzlichen Zusammenbruchs erwarte uns die Dauerkrise, die jeden Tag ein bißchen schlimmer wird. Die Verkehrssituation in Tokyo, Mexiko-City oder Bangkok zeigt, welcher Spielraum in Richtung Chaos noch besteht. Selbst dort läßt der Infarkt auf sich warten.

Die Metapher vom Infarkt legt zudem den Bypass nahe, den Bau weiterer Straßen, um blockierte Verkehrsadern zu umgehen. Nach einem Jahrzehnt kleinlauter Zurückhaltung versucht die Straßenbau-Lobby inzwischen mit neuer Argumentation Druck zu machen. BMW-Manager Helmut Becker fordert einen generell sechsspurigen Ausbau der wichtigsten Autobahnen, um die deutsche Wirtschaft zu retten. Angeblich 200 Milliarden Mark im Jahr würde uns der Stau kosten, rechnet der BMW-Mann vor. Aber auch aus ökologischen Gründen müßten mehr Straßen gebaut werden, um Stau-Emissionen einzusparen und so die Umwelt zu entlasten.

VDA-Geschäftsführer Diekmann assistiert: Nicht die ungebremste Motorisierung, sondern die „zeitgeistbedingte Abstinenz“ beim Straßenbau sei für den Stau und die „hierdurch induzierten Umweltbelastungen und Unfallrisiken“ verantwortlich. So wird die Betonorgie zur guten Umwelttat. So werden mit neuen Straßen die Tauben gefüttert, damit es noch mehr werden.

Doch die Zeiten, in denen die PS-Zunft stur aus der Windschutzscheibe blickte und die Umweltdebatte ignorierte, sind vorbei. Die 40. Million jedenfalls wird nirgendwo gefeiert. Da das Auto „mitunter doch kritisch gesehen wird“, so Helmut Wilk vom Kraftfahrt-Bundesamt, werde man im Juli bei der Halbjahresbilanz zu dieser Zahl eher zurückhaltend Stellung nehmen. Auch der VDA reagiert alles andere als feierlich. Von der taz auf die runde Zahl angesprochen, steuert VDA-Sprecher Isfried Hennen ohne Umschweife das Thema Stau und „Verflüssigung“ der Verkehrsströme an. Der eigene Erfolg scheint auch der Industrie allmählich Angst zu machen.

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