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Abschiebung um jeden Preis

■ Niedersachsen schiebt armenische Flüchtlinge ab. Familien werden getrennt, Kranke müssen ausreisen. Hauptsache transportfähig.

„Erst wurden wir freundlich aufgenommen, und dafür sind wir sehr dankbar. Aber jetzt werden wir wie die Hunde behandelt.“ Agasi K. ist völlig verzweifelt, denn morgen wollen die Behörden den Armenier und seine Kinder abschieben. Ebenso wie zwei weitere armenische Familien, mit denen Agasi K. im Juli 1993 nach Deutschland floh. Die Abschiebung soll erfolgen, obwohl jeweils ein Mitglied der Familien schwer krank ist.

Im August 93 wurden alle drei Familien in ein Flüchtlingswohnheim im niedersächsischen Bruchhausen-Vilsen bei Syke verlegt. Seitdem am 30.4. diesen Jahres der bundesweite Abschiebestop für ArmenierInnen ausgelaufen ist, finden sie keine Ruhe mehr. Die Angst vor der Rückreise nach Armenien, ein Land, in dem noch immer der Bürgerkrieg schwelt, in dem sie alles verloren haben außer ihrem Leben, ist so groß, daß einige der Familienmitglieder psychisch völlig abbauten und sich in psychiatrische Behandlung begeben mußten. Was wird sie erwarten, wenn sie zurückkommen?

Die Männer, fürchten sie, könnten für den nur formal beendeten, realiter aber fortgeführten Krieg gegen Aserbeidschan zwangsverpflichtet werden. Furcht haben sie auch vor dem Rückweg, der über Georgiens Hauptstadt Tiflis führt, da der Flughafen in Jerewan von Deutschland aus nicht angeflogen werden kann. Die Bahnlinie von Tiflis nach Armenien aber wird immer wieder von bewaffneten Gruppierungen angegriffen, die sich im spannungsgeladenen südlichen Georgien gebildet haben, und deren Attacken sich vornehmlich gegen die armenische Bevölkerung richten.

Diese Ängste entsprechen den realen Gegebenheiten im Land, bestätigt Dr. Gassan Gussejnov, Experte bei der Forschungsstelle Osteuropa an der Bremer Universität. Besonders für Kinder und Frauen sei die Gefahr real, daß sie einem Überfall in einem der Züge zum Opfer fallen. Doch auch in Armenien selbst herrschen „terrorähnliche Zustände“, so Gussejnov, nicht zuletzt, weil „das Land von allen Seiten bedroht“ sei. Die Wirtschaft liege völlig brach, es herrsche eine desolate Wohnungsknappheit, das Gesundheitssystem sei unzureichend. „Wer dorthin zurückgeschickt wird, wird in die Hölle geschickt“, sagt der Osteruropa-Experte. „Und jeder, der aus dieser Hölle hier Zuflucht gefunden hat, sollte Unterstützung erhalten, wenigstens für ein paar Jahre.“

Das aber sehen das Bundesamt und dessen VertreterInnen vor Ort offensichtlich anders. Während in Bremen nach Auskunft einer Sprecherin des Innensenators „akut keine Abschiebungen“ der etwa 100 armenischen Flüchtlinge im Land Bremen „anstehen“, mehren sich in Niedersachsen die Anzeichen für flächendeckende Abschiebungen. In Salzgitter und im Landkreis Diepholz werden gehäuft Grenzübertrittsbescheinigungen ausgestellt, ebenso wie andernorts im Bundesland, bestätigt der niedersächsische Flüchtlingsrat. Insgesamt sind in Niedersachsen etwa 150 ArmenierInnen betroffen, erklärt Volker Benke, Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums.

Zu ihnen gehören die drei Flüchtlingsfamilien in Bruchhausen-Vilsen, in deren Wohnheim am Freitag die Vertreterin der Ausländerbehörde auftauchte. Die Flüchtlinge sollten unterschreiben, daß sie am Mittwoch freiwillig ausreisen. Allein die Familie T. soll die nächsten Tage noch verschont bleiben. Die einjährige Tochter Argine hat ihre Nierenbeckenentzündung noch nicht auskuriert, braucht antibiotische Dauerbehandlung und ständige Kontrollen. Jede weitere Infektion bedeutet Lebensgefahr für das Kleinkind. Diese Familie soll abgeschoben werden, sobald das Gesundheitsamt das Kind für transportfähig erklärt.

Seda K. ist so krank, daß sie im Hospital liegt. Folgerung der Behörde: Auch sie soll bleiben, solange sie nicht „transportfähig“ geschrieben worden ist. Agasi K. aber soll am Mittwoch mit den beiden sechs- und zwölfjährigen Kindern in das Flugzeug gesetzt werden. Seitdem sie das wissen, haben Seda und Agasi K. kaum noch geschlafen. Die Angst davor, auseinandergerissen zu werden, legt die Nerven blank. „Wie soll ich denn mit den Kindern allein reisen? Ich kann ihnen doch nicht geben, was eine Mutter ihnen gibt“, fragt Agasi mit Tränen in den Augen. Wie soll er die Kinder ernähren, wo soll er auf seine Frau warten in Armenien? Er hat keine Wohnung, keine Arbeit, kein Geld. Er fürchtet, die Familie könnte für immer auseinandergerissen werden.

Die fünfköpfige Familie M. soll komplett am Mittwoch abgeschoben werden, obwohl der Vater Vladimir an Hepatitis B erkrankt ist. Anders als die behandelnden ÄrztInnen hat das Gesundheitsamt ihn für transportfähig erklärt, obgleich er unter starken Schmerzen leidet und laut Behandlungsplan am Dienstag im Krankenhaus punktiert werden muß. Er braucht strenge Diät. Wie soll er sich ernähren in Armenien?

„In solchen Fällen schieben wir natürlich nicht ab“, versicherte Volker Benke, während zur selben Zeit die Vertreterin der Ausländerbehörde im Wohnheim die Flüchtlinge zur „freiwilligen Abreise“ zwingen wollte. Dabei muß sie wissen, daß einem Erlaß des niedersächsischen Innenministeriums zufolge Familien nicht getrennt werden dürfen. „Wir warten, bis das letzte Familienmitglied fertig ist zur Ausreise“, versicherte Volker Benke gegenüber der taz. Obschon der Erlaß für das Bundesamt nicht rechtlich bindend ist, habe dieses sich gewöhnlich daran gehalten.

Doch die Vertreterin des Ausländeramtes signalisierte am Freitag Sachzwang: die Rückflugtickets seien gebucht, man könne diese nicht verfallen lassen. Schließlich aber zeigte die direkte Konfrontation mit den betroffenen Menschen und ihren Ängsten doch noch Wirkung. Das Amt verzichtete vorerst auf die Unterzeichnung der Papiere zur freiwilligen Ausreise und will die einzelnen Fälle heute noch einmal prüfen. Keinen Zweifel aber ließ sie daran, daß die Tickets eingelöst werden. Wen das Schicksal trifft, erfahren die Flüchtlinge frühestens heute. dah

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