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„Diese Arbeit kann jeder machen“

In der Leipziger Schokofabrik Böhme schuften 400 Frauen für 1.500 Mark brutto / Jetzt streiken sie zum ersten Mal in ihrem Leben – und verachten die „Streikbrecherinnen“  ■ Aus Delitzsch Thorsten Schmitz

Die Sorge um den Kontostand planiert zweimal am Tag das schlechte Gewissen von 70 Frauen und ein paar Männern. Seit ein paar Tagen treffen sie sich morgens um fünf Uhr vor einer Bäckerei in der Dübener Straße, wenn 30.000 Delitzscher noch unter Daunen liegen. Sie wollen keine Brötchen. Sie wollen die Gewißheit, daß ihr privates Soll und Haben im Gleichgewicht ist. Der Schlaf klebt noch in ihren Augen und auch ein bißchen Scham. Paarweise steuern sie zu auf Tor 1 ihres Geldgebers, die Böhme-Schokoladenfabrik. Untergehakt, den Blick stur auf den Boden gerichtet.

„Als ob ich auf den Scheiterhaufen muß“, flüstert die junge Mutter dreier Kinder. Der Schritt durchs Tor ist eine Qual. Denn zuerst muß sie an einer Gruppe Streikender vorbei. Es sind ihre Kolleginnen, die ein schmales Spalier gebildet haben. Sie trillern mit geliehenen Pfeifen der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten (NGG). „Streikbrechern“, wie sie die Arbeitswilligen mit runtergezogenen Mundwinkeln titulieren, muß man das Miese ihres Tuns ins Gehirn pfeifen. Die NGG hat den Streikenden außerdem empfohlen, die Namen der Umfallerinnen in ein Streikbuch zu notieren. Das hält einerseits wach, der Tag ist noch frisch, andererseits täuscht die kollektive Beschimpfung über die eigene Angst hinweg. Und die ist groß.

440 Menschen, davon die meisten Frauen, verdienen ihr Geld bei Böhme. Mittelalterlich wenig, das geben auch die zu, die sich morgens in die Firma mogeln, obwohl ihnen ihr Gewissen das verbietet. Einige Beschäftigte rauschen inzwischen in Fahrgemeinschaften an und drehen vorm Tor das Radio extra laut. Akustisch entgehen sie so der schrillen Schelte. Und machen es so geschickt unmöglich, daß ihnen giftige Zettel in die Hand gedrückt werden, die sie zu Verrätern stempeln: „Ich lasse meine Kollegen im Stich“ steht darauf. Letzte Woche, so geht das Gerücht, durften die Arbeitswilligen zu Hause bleiben, weil sie vorm Unmut der Arbeitsunwilligen angeblich Angst gehabt hatten. Seit zehn Tagen läuft bei Böhme der Schokoausschuß auf Minimalniveau, und ungefähr seit derselben Zeit hat eine Bierfirma Plakate ums Areal gehängt mit gefüllten Biergläsern drauf und der Verheißung: „Blumige Aussichten“.

Es verletzt den Stolz der streikenden Frauen, 40 Stunden in der Woche für einen bitteren Hungerlohn süße Ware zu portionieren. So sitzen sie im Zwei-Schicht-System ihre Forderung nach mehr Lohn vor den vier Firmentoren ab und haben die Streikregularien verinnerlicht, als hätten sie nie was anderes gelernt. Auf Seminaren und durch einen Rechtsanwalt haben sie erfahren, welcher Paragraph sie davor schützt, gefeuert zu werden, und welcher es dem Firmenboß verbietet, ersatzweise neue Leute einzustellen. „Kein Billiglohnland im Osten“ steht auf den Plakaten. Der Tariflohn in der ostdeutschen Süßwarenindustrie liegt bei sieben Mark. Schon in realsozialistischen Zeiten war das kaum anders.

Westdeutsche Funktionäre der NGG kämpfen gegen die Lustlosigkeit. Sie trichtern den Frauen und den paar Männern ein, wie beim Streik der Küchendienst klappt, trinken der Solidarität wegen schon mal ein Bier mit und bitten ihre Klientel, „ja sauber zu bleiben“. „Für die Kippen haben wir doch extra Aschenbecher besorgt.“ Wenn solcherart Kraftspenderei die Funktionäre schlapp macht, fahren sie mit dem Auto die 200 Meter ins nahe gelegene klinisch-komfortable Hotel, die Nacht zu 100 Mark. Weshalb zu später Stunde auch schon mal eine gehässige Bemerkung über die feudalen Streikmanager der NGG fallengelassen wird.

Bei einem abenteuerlich niedrigen Lohn zwischen 1.500 und 1.700 Mark brutto ist ein Hotelaufenthalt konkrete Utopie. Die weiteste Reise im Leben der 54jährigen Karin Strunck* war ein Alles-inklusive-Trip nach Franken vor drei Jahren. Der Rücken der Arbeiterin schmerzt jeden Tag, und sie fragt sich: „Für was?“

Für 1.150 Mark netto.

44 Europaletten, jede 18,7 Kilogramm schwer, wuchtet die stämmige Frau täglich. Die Weihnachtsmänner, die ab Mai gegossen werden, dürfen im Sommer nicht schmelzen, und so sorgt eine labyrinthisch installierte Lüftungsanlage in den Produktionshallen für konstante 18 Grad. Karin Strunck hat fast immer kalte Hände, die Temperatur sorgt für Verspannung, alle drei Monate wird sie von einem Masseur auf Kosten der Krankenkasse geknetet. „Abends falle ich ins Bett, und wenn ich in der Frühe aufstehe, bin ich noch nicht mal ausgeruht.“

Identifikationsstiftende Wirkung unter den Streikenden entfaltet die Legende vom bösen Wessi, der eine sächsische Schokoladenfabrik vernascht und seine Angestellten für einen Witzlohn schuften läßt. Die Böhme-Fabrik gehört zum Mülheimer Pralinenproduzenten „Wissoll“ (Firmenmotto: „Komm ins süße Wissoll-Land!“). „Wissoll“ mit seinen 330 Millionen Mark Umsatz allein im letzten Jahr gehört wiederum zu Tengelmann. Und Tengelmann „schwimmt doch in Geld“. Soviel ist bis 25 Kilometer nördlich von Leipzig auch schon durchgedrungen. Der Schokochef von Böhme, Rainer Hornschild, ein Wessi, hat sich „hier gleich ein Haus gekauft und Putzfrau und Kindermädchen angestellt“. Lästernd schaffen sich die Frauen ein Ventil für ihre eigene Misere. Drei Millionen Mark jährlich würde in etwa die Forderung der NGG nach Lohnerhöhung und -anpassung ans Westniveau ausmachen. Es könne ihnen doch niemand weismachen, argumentieren die Frauen, daß diese Summe Tengelmann in den Ruin treiben würde. Schließlich hat doch die Wissoll-Gruppe in den letzten vier Jahren 70 Millionen Mark in ein Total-Lifting von Böhme investiert.

Die Stimmen und das Gelächter der Frauen vor seiner Firma dringen bis in Hornschilds Büro, und irgendwie guckt der Werkleiter betrübt. Täglich rufen die Wissoll- Häuptlinge bei ihm an und wollen wissen, wie lange ihr Stamm im Osten denn noch den Ausstand probe. Es werde schwerfallen, sagt Hornschild, die „Wissoll“-Manager noch einmal zu Investitionen zu überreden. Ganz ohne jede Miene stellt er fest, die „unqualifizierte Arbeit“ der Frauen „kann jeder machen“. Mit drei Worten nur wischt er die Legitimation des Streiks vom Tisch und zementiert so das Bild vom bösen Wessi. Hornschild spricht vage von einer Anpassung der Löhne, erstickt aber die Idee im gleichen Atemzug: „Dann schaffen wir eben alle Hilfsarbeiter ab“ – er meint die Frauen –, „und die Pralinen werden teurer.“ Viel billiger können sie allerdings nicht mehr werden. Eine Standardpackung kostet im Delitzscher „Spar“ 3,99 Mark.

Die streikenden Frauen und Männer hocken in einem Mitsubishi-Lastwagen, den die NGG zur Verfügung gestellt hat, denn es regnet Schnüre. Bier tröstet über das streikfeindliche Wetter hinweg und über das „Wo soll das nur alles hinführen?“. Sie hocken so die Zeit ab, in der sie eigentlich Weihnachtsmänner in Kartons plazieren und Nougatnaschwerk in Form von Sektkorken verpacken müßten. Immerhin zwischen 7.000 und 8.000 Tonnen Schokohäppchen verlassen Delitzsch jährlich. Das Dicht an dicht im Lkw entfaltet einheitssozialistische Nestwärme. „Das ist ein bißchen wie früher“, sagt eine 34jährige alleinerziehende Mutter und zieht zweimal kräftig an ihrer „Kabinett“. „Wir machen was zusammmen. Jetzt ist ja jeder nur noch für sich.“ Die Lkw-Besatzung nickt synchron, daß es schwankt.

Die CDU-regierte Kreisstadt hat ein ähnlich gespaltenes Verhältnis zu ihren streikenden Frauen wie die unter sich. Nur die PDS hat die Witterung aufgenommen. Sechs PDS-Rentner schieben nun nachts Wache vor Böhme; gewerkelt haben sie da nie. Diese kleine Aufmerksamkeit schützt die Schoko-Boykotteurinnen vor dem Gefühl, sich in die Bedeutungslosigkeit zu streiken. Der Leipziger Volkszeitung war die PDS-PR immerhin 60 Zeilen wert. Ein trotziges „Wir lassen uns keine Angst machen“ haben die Frauen übrig für Hornschilds Behauptung, schon seien Aufträge storniert und Kunden anderswohin abgeworben worden. Streiken strengt an. Für alle ist es das erste Mal, und alle hätten gerne darauf verzichtet. Früher haben sie verständnislos den Kopf geschüttelt, wenn in der Tagesschau ein Bericht über Streiks lief. Die verdienen so viel und streiken auch noch! Seit zehn Tagen tun sie es selbst, und im Bauch macht sich ein komisches Gefühl breit: zur Arbeit gehen, im geographischen Sinn, aber Brötchen aufschneiden und Buletten reindrücken. Rumhocken und um die Firma spazieren und die warme Mahlzeit abpassen und Magnum- Eis schlecken und darüber nachdenken, wie man irgendwann mal wieder mit den streikbrechenden Kollegen Schulter an Schulter am Fließband steht und sich womöglich nichts mehr zu sagen hat. In dieser Stimmung, einer explosiven Mixtur aus Frust und Fatalismus, betritt eine NGG-Funktionärin den Lkw und verteilt verbale Streicheleinheiten. Die Streikenden lauschen wie Pennäler. Am Wochenende – und ihre Mienen hellen sich auf – soll in Erfurt eine Großdemonstration den Teamgeist aktivieren, und am Sonntag „steigt“ in Delitzsch ein Fest für die ganze Familie. Im VEB-Duktus verteilt die NGG-Frau allumfassend Lob. „Die Kollegen stehen wie eine 1“, berichtet sie von der Streikfront, und: „Ihr habt Mut und Kraft bewiesen!“

Streiken „bis zum bitteren Ende“ ist die Devise, wobei das Bittere die Angst ist, die schon jetzt über allen schwebt. „Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, haben wir ja alle“, sagt Waldemar, der sich totlachen kann, wenn er seine Herkunft erklärt. Waldemar – weil's im Wald geschah. Darauf noch ein Bier oder zwei. Und aus dem Kassettenrecorder scheppert Jennifer Rush. Die Frauen sehnen den Moment herbei, wenn der Ehemann vorbeifährt und sie nach Hause bringt. Manchmal ist es still, und alle gucken mit einem seltsam entrückten Blick auf die Pfützen draußen.

Eine „primitive Veranstaltung“ nennt eine Verwaltungsangstellte die Wegelagerer vor den Werkstoren. Primitiv „ist das ganze Drumherum“. Sie trifft auch morgens vor der Bäckerei die Streikbrecherinnen, und am Mittag „schleichen wir uns raus wie Diebe“.

So viel Demut vorm Kollegenfeind hat Annegret Riedel* am Fließband nicht. Mit zwei kalten Händen füllt sie Plastikbecher mit Nougatkugeln, die am Fließband an ihr vorbeiziehen und unterstreicht die Bedeutung dieses Tuns noch mal verbal: „Ich nehme meine Zukunft in die Hand.“ Riedel kann es nicht fassen, daß ihre Kolleginnen „wie fremdbestimmt“ der NGG folgten und durch den Streik alle Arbeitsplätze aufs Spiel setzen. Sie möchte in ihrem Leben „noch mal was anderes“ machen, ein Häuschen kaufen zum Beispiel. Wie, will sie wissen, soll das denn gehen ohne Arbeit.

Annegret Riedel fragt sich allerdings auch nicht, wie sie ein Haus kaufen kann mit einem Nettoverdienst von 1.250 Mark.

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