: Vom Dalai Lama zum Ultra-Man
Extremsport ist ein Mittel zur Selbstfindung / Für den Körper kann die Obsession jedoch gefährlich sein / „Man kann sich seine eigene Hölle oder seinen eigenen Himmel schaffen“ ■ Von Norbert Seeger
Zehn Kilometer schwimmen, 420 Kilometer radfahren und ein Doppelmarathon: Das alles hat Klaus Haetzel beim Ultra-Man- Triathlon innerhalb von zwei Tagen absolviert. Er gehört zu dem guten Dutzend Leuten in Deutschland, die sich Jahr für Jahr mit Lust auf sportliche Aktivitäten einlassen, die nicht nur unsportlichen Zeitgenossen allein beim Nachdenken darüber einen monatelang andauernden Muskelkater bescheren würden.
Extremsportler bringen Leistungen wie Spitzensportler, unterscheiden sich von diesen aber dadurch, daß sie ihren Sport nicht als Beruf, sondern als Obsession betreiben. Eine Obsession allerdings, die nicht ganz frei von Suchtgefahren ist. So hat Haetzel seit 1980 siebenmal einen Iron-Man-Triathlon (3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren, 42,195 km Marathon), zweimal einen Ultra-Man-Triathlon und einmal die „Race across Amerika“ (RAAM) – 5.000 Kilometer auf dem Fahrrad in acht bis elf Tagen – mitgemacht. Die Anzahl seiner in dieser Zeit gelaufenen und gefahrenen Marathons, Duath- und Triathlons kann er nicht mehr genau benennen. „Das werden mindestens 40 bis 50 Wettkämpfe gewesen sein“, schätzt Haetzel.
„Solche Leistungen können beim besten Willen nicht mehr alsgesundheitsfördernd bezeichnet werden“, warnt Folker Boldt, Leiter des Landesinstituts für Sportmedizin in Berlin. „Die Gefahr, daß Schäden am Stütz- und Bewegungssystem auftreten, ist bei diesen extremen Belastungen groß.“ Ebenso wird seinen Angaben nach auch das Immunsystem in Mitleidenschaft gezogen. Deswegen diene diese Art des Sportes nicht mehr dazu, den Menschen gesund zu erhalten. „Im Gegenteil, ein Organismus muß extrem gesund sein, um diese Belastungen überhaupt aushalten zu können.“
So stellt sich die Frage, warum es trotzdem immer mehr Menschen gibt, die bereit sind, solche Risiken freudig auf sich nehmen. Die Antwort darauf sucht Klaus Haetzel seit fünfzehn Jahren: In Ansätzen habe ich es geschafft, sie zumindest für mich selber zu finden. Unter anderem hat er auch zwei Bücher geschrieben, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Er sehe seinen Sport als einen Weg, sich selber auf den Grund zu kommen. „Das ist ein mentaler Einstieg in die jedem Menschen zur Verfügung stehenden Energiequellen“, berichtet Haetzel. Neben der rein körperlichen Erfahrung der totalen Ausnutzung der körperlichen Ressourcen sei auch die Beachtung dessen notwendig, was in der Psyche bei solchen Gewalttouren vorgehe. So spielt neben dem Sport und der Ernährung die meditative Vorbereitung auf den Wettkampf eine sehr bedeutende Rolle.
Im Gegensatz zu vielen der Spitzensportler ist er davon überzeugt, daß es jenseits von allen Dopingmethoden Möglichkeiten gibt, in neue Energiebereiche vorzudringen und so seine Grenzen nach oben hin zu erweitern. „Wenn bei anderen Menschen schon lange die Alarmsirenen schrillen, setze ich dazu an, meinen Verstand davon zu überzeugen, daß ein Weitermachen ohne weiteres möglich ist.“ Haetzels Maxime: „Wenn die Power alle ist, wird es erst richtig spannend.“ Deswegen sieht er auch nicht im körperlichen Versagen die größte Bremse, sondern in der Versagensangst: „Sie schneidet sowohl meine natürliche wie auch meine spirituelle Energie ab.“ Beide sind seines Erachtens nach gleichermaßen als unabdingbare Voraussetzung dafür zu sehen, solche extremen Leistungen überhaupt erbringen zu können. Wenn er diese Bremse überwunden hat, sieht er sich endlich auf „seinem eigenen Leitstrahl“, und dann beginnt für ihn auch das mentale Erleben des Extremsports.
Allerdings war er nicht von Anfang an auf der Suche nach Erfahrung der geistigen Welt, sondern kam erst durch seinen Sport darauf, sich zu fragen, ob es neben der körperlichen Welt noch eine zweite, eine geistige gibt. Deswegen hat er sich eingehend mit der eingeborenen hawaiische Religion und den dazugehörigen Mythen beschäftigt. Er fühle sich zu der Sri-Chinmoy-Lehre von den zwei Säulen Sport und Meditation hingezogen und ebenso sei er stark von der Persönlichkeit des Dalai Lama, mit dem er schon persönlich gesprochen hat, beeinflußt worden. „Dadurch, daß ich versuche, äußere und innere Erfahrungen miteinander in Einklang zu bringen, werde ich für viele erst zu dem Spinner, als der ich oft angesehen werde.“
Viele seiner Mitleidensgenossen und -genossinnen sähen im Gegensatz zu ihm den Extremsport als etwas an, womit man nur die körperliche Leidensfähigkeit bis an die jeweiligen Grenzen ausreize. Allerdings machen sie dann seiner Ansicht nach die gegenteilige Erfahrung: „Man kann sich dort seine eigene Hölle oder seinen eigenen Himmel schaffen.“ Daß Klaus Haetzel sich seinen Himmel erschaffen hat, erklärt er sich neben der Erweiterung seines geistigen Horizonts durch das bestimmende Gefühl von Abenteuer und Gemeinsamkeit. Als Begründung für seinen Start bei der RAAM gibt er an: „Ich mach' das nur, weil ich die Liebe der anderen suche und sie hier ungehemmt und in der stärksten Form bekommen kann.“
Aber ungeachtet dieser Einschätzung bedauere er, daß sich die Extremsportarten inzwischen immer mehr dem Kommerzialisierungsgebot unterworfen hätten. Deswegen hat er für sich das Fazit gezogen, mit dem Extremsport aufzuhören. Zudem wolle er nicht bei jedem Bierchen in der Kneipe oder bei jedem Theaterbesuch daran denken, ob der Alkohol oder das längere Aufbleiben der Fitneß abträglich sind. Auch möchte er seine Erfahrungen vermehrt in Buchform verarbeiten, wobei Haetzel den Extremsport auch hier als bildendes Element betrachtet: „Er ist ein Mittel, die geistige Kultur ein bißchen weiter zu entwickeln.“
Trotzdem träumt Haetzel weiterhin vom ultimativen Marathon: „Ich möchte über diese stromlinienförmig, über diese aerodynamisch geschnittenen Grenzen hinausgehen und das alte Abenteuer suchen.“ So stellt er sich vor, den Atlantik schwimmend zu durchqueren, anschließend die USA auf dem Fahrrad. Zurück geht es per Pedes wieder an den Ausgangspunkt. Ob er auch die Strecke von New York nach Berlin wieder zurückschwimmen wolle, ließ er bei seiner Darstellung allerdings offen.
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