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Homo informaticus

■ Der Fluch des Infozeitalters: Overkill am Hypertext-Kiosk

Ich habe ein schlechtes Gewissen. Das Fernsehprogramm zeigt mir jeden Tag, daß ich viel verpassen werde. Die Zeitungen und Zeitschriften, die sich neben meinem Schreibtisch auf der Erde stapeln, bleiben eine Weile liegen, dann wandern sie ungelesen in den Altpapiercontainer.

Ob CompuServe oder Internet, das Angebot schraubt das Bewußtsein meiner Unfähigkeit, auch nur einen Bruchteil des Angebotes sinnvoll nutzen zu können, ins Unermeßliche. Noch nie hätte ich so viel lernen, erfahren und wissen können wie derzeit. Aber mein Tag hat nur 24 Stunden. Und bis zur Veröffentlichung des Computerprogramms, das mir daraus einen 36-Stunden-Tag zaubert, bemerke ich etwas Komisches. Mein Bewußtsein, daß ich ohnehin nur einen Bruchteil des Infoangebots wahrnehmen kann, führt dazu, daß ich weniger lese – ob im alten Printmedium oder seiner elektronischen multimedialen Variante – als in den Tagen vor dem Informationszeitalter.

Ein gutsortierter Zeitschriftenkiosk führt heute rund 7.000 Titel, Frauenzeitschriften, Fachblätter für Angler, Gleitdrachensegler, Jäger und Motorradfans, Börsianer, Freudianer und Hobbyrestauratoren von antiken Möbeln des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Südengland. Man findet alles. Halt. Findet man wirklich alles? Sagen wir es etwas genauer: Es wird alles angeboten. Die Regale in den Zeitschriftenkiosken quellen über, Tausende von bunten Titelbildern schreien mich an: „Kauf mich!“

Ich lese gern. Und ich lese viel. Nichts ist schöner, als es sich am Sonntagmorgen genüßlich im Café mit einem heißen Cappuccino hinter der dicken Wochenendausgabe der Zeitung gemütlich zu machen. Und ich lese zum Frühstück. Und ich lese am Abend, wenn ich darauf warte, daß der Film im Fernsehen anfängt. Aber das genügt alles nicht mehr. Noch bis vor kurzem hielt ich drei Tageszeitungen im Abonnement. Und ab und an kaufte ich mir die eine oder andere Wochenzeitung, mal dieses, mal jenes politische Magazin. Damit ist eigentlich schon alle freie Zeit fürs Lesen ausgereizt, noch keine Zeile der Computerzeitschriften wahrgenommen. Und jede von ihnen hat eine CD beigepackt, für die ich drei oder vier Stunden brauchte, um zu sehen, ob da für mich etwas Sinnvolles drauf ist. Und Bücher?

Der Fluch des Informationszeitalters hat seinen Weg in mein Wohnzimmer gefunden. Ich werde zugeschüttet. Schon längst schaue ich kaum noch eine Sendung im Fernsehen an einem Stück vom Anfang bis zum Ende. Zappe mit der Fernbedienung durch die Kanäle. Mein Sehverhalten hat sich ebenso grundlegend geändert wie mein Leseverhalten. Es wird nur noch reingeschaut, angelesen, überflogen, gesichtet. Es ist einfach keine Zeit mehr da, um fundiert in Ruhe ein Thema durchzuschauen oder durchzulesen.

„http“, das „Hpertext Transport Protocol“ des Internets, stellt zwar einen sinnvollen Sprung in der Nutzung des Informationsangebots mit seinen Verknüpfungen und Links zusammenhängender Daten dar, damit aus all den vielfältigen Daten für mich eine brauchbare Information wird, aber es ändert sich nichts daran, daß man früher oder später im Info- Ozean das Rudern einstellt und kläglich untergeht.

Hypertext ermöglicht, daß man nicht mehr sequentiell Informationen aufnimmt, es revolutioniert geradezu den intellektuellen Vorgang der Wissensaneignung, unterstützt von den elektronischen Möglichkeiten des globalen Information Highways. Das Internet bietet also eine virtuelle Bücherei, ein elektronisches Weltwissen. Und wenn man dabei bedenkt, daß ja erst ein verschwindend geringer Teil der Archive in digitalisierte Form gebracht worden ist, wird einem bewußt, daß die neue, computergestützte Form der Recherche und Wissensaneignung gerade mal eben in ihren Kinderschuhen steckt.

Es wird also noch mehr kommen, noch mehr verfügbar sein, noch mehr will wahrgenommen, gelesen, verarbeitet, ausgewertet, miteinander verglichen und in Beziehung gestellt sein. Nicht nur meine Festplatten sind voll. Auch mein Hirn läuft über. Kurt Nane Jürgensen

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