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Wettrennen um die genetischen Goldclaims

■ Gleich drei Forschergruppen streiten sich um das Gen für die Muskelschwäche

Bei der Spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich um eine der häufigsten genetisch bedingten Erkrankungen, etwa eines von 6.000 Neugeborenen ist davon betroffen. Die Degeneration von Nervenzellen des Rückenmarks verursacht Muskelschwäche und Lähmungserscheinungen. Die schwerste Form, SMA I, führt meist in den ersten Lebensjahren zum Tod. Der Vererbungsgang deutet darauf hin, daß ein einzelnes verändertes Gen die Krankheit auslöst; gute Chancen für Gentechniker also, Fehler zu finden.

Oder auch nicht: „Das richtige SMA-Gen möge bitte aufstehen!“ überschrieb die Fachzeitschrift Molecular Medicine Today einen Artikel zum Thema. Denn gleich drei Arbeitsgruppen aus Frankreich, Kanada und den USA hatten Anfang des Jahres kundgetan, daß sie das krankheitsauslösende Gen entdeckt haben — nur leider haben die Genforscher jeweils unterschiedliche Gene ausgemacht. Sie beschreiben drei Abweichungen, die bei gesunden Kontrollgruppen äußerst selten sind, jedoch bei 60 bis 90 Prozent der untersuchten SMA-Patienten auftreten. Natürlich nimmt jede Arbeitsgruppe für sich in Anspruch, das SMA-Gen gefunden zu haben. Nur die kanadischen Forscher ziehen die Möglichkeit in Betracht, daß möglicherweise doch zwei Gene gemeinsam als SMA-Verursacher in Betracht kommen.

Unklar ist bisher, wie die Veränderung des SMA-Gens — welches auch immer — zur Symptomatik der Muskelatrophie führt. Die Kanadier gehen davon aus – einem derzeit unter Genforschern beliebten theoretischen Konzept folgend –, daß das von ihnen beschriebene Gen die Bauanweisung für ein Protein enthält, das bei Gesunden die Selbstauflösung von muskelsteuernden Zellen des Rückenmarks verhindert. Ein Fehler im Gen führt dann zum Untergang der Nervenzellen.

Die Lage scheint also zur Zeit durchaus verworren. Das hindert jedoch die französische Gruppe nicht daran, bereits von einer Revolution der klinischen Tests, von neuen Möglichkeiten der humangenetischen Beratung und der vorgeburtlichen Diagnostik mittels des von ihr entdeckten Gens zu schwärmen. Auch die Amerikaner stellen die diagnostische Bedeutung „ihres“ SMA-Gens heraus. So zeichnet sich ab, daß zunehmend nicht die Aufklärung der wirklichen Entstehungsmechanismen genetisch beeinflußter Krankheiten im Vordergrund steht, sondern das Abstecken von Claims im menschlichen Genom. Wer für ein Stück genetischer Information Funktion und medizinischen Nutzen zumindest glaubhaft macht, kann nach der derzeitigen Rechtslage in den USA auf eine Patenterteilung für solche „Erfindungen“ hoffen. Wiebke Rögener

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