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■ Stunde NullNur ein Esel überlebte

Seit über einem Monat ist die Rote Armee in Berlin, und glaubt man den Leserzuschriften in der Berliner Zeitung, so wünschen sich die Einwohner der zerstörten Stadt nichts sehnlicher, als die Sprache der russischen Besatzer zu erlernen. Doch ganz offenbar begnügen sich nicht alle ehemaligen Volksgenossen bei ihrer Annäherung an das „russische Wesen“ mit dem Wörterbuch. Am 31. Mai 1945 werden zwei Berliner wegen verbotenen Waffenbesitzes von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet.

Am gleichen Tag sieht sich Berlins Oberbürgermeister Dr. Werner genötigt, einen Aufruf zu erlassen, in dem er alle Berliner eindringlich davor warnt, „Anschläge auf Angehörige der sowjetischen Besatzungstruppen oder Träger öffentlicher Funktionen zu verüben“. Jedes Attentat und jede Sabotage werde nicht nur mit dem Tod des Täters, sondern zugleich auch mit der Erschießung von jeweils „50 Mitgliedern der Nazipartei“ bestraft werden.

„Hart, aber gerecht“, so urteilt der Kommentator der Täglichen Rundschau zwei Tage später, und wer die Zeitung liest, weiß, daß es im Bedarfsfall an abzuurteilenden „PGs“ nicht mangelt.

Fast täglich veröffentlicht die „Frontzeitung für die deutsche Bevölkerung“ in ihrer Leserbriefecke Zuschriften wie die von A.F. aus Neukölln: „Mir ist da ein Steigbügelhalter der Nazis bekannt. Früher war er bei einer Lebensmittelverteilungsstelle beschäftigt und hat dort sein Schäfchen ins Trockene gebracht. Heute sitzt er schon wieder in einer Stelle zur Erfassung leerstehender Naziwohnungen.“

Woran man einen aufrechten Deutschen von einem üblen Nazi unterscheiden kann, wissen die Leser der Täglichen Rundschau. Denn bereits in seiner Ausgabe vom 18. Mai veröffentlichte das von sowjetischen Offizieren redigierte Blatt unter der Überschrift „Hitlers Führerschicht – Auswurf der Menschheit“ ein halbes Dutzend Kurzporträts führender NSDAP-Funktionäre. „Jeder Name ein eiterndes Geschwür, eine stinkende Beule.“ Da hat zum Beispiel Schwede-Koburg, der Gauleiter von Pommern, „den Boden in den Kuhställen seiner Güter mit Parkett auslegen lassen“ und im Herbst 1944 „dank seiner hohen Stellung drei Doppelzentner Kaffeebohnen aus Italien“ bezogen, „an deren Verkauf er sich natürlich mächtig bereicherte“. Der Chef des Warthegaus verzierte seine Toilette mit „belgischen Marmorplatten“ und hortete „20.000 Flaschen erstklassigen Weines“ sowie „mehrere Tonnen Schweinespeck“ im Keller. Einen „pathologischen Hang zur Notzucht an Minderjährigen“, so die Tägliche Rundschau, zeichnete Julius Streicher, den Herausgeber des Stürmers, aus, während der Gauleiter von Niederschlesien „wegen mangelnder Begabung“ vorzeitig von der Schule flog und seine „großen Erfahrungen in Freudenhäusern und Kabaretts“ sammelte.

Trotzdem wird zwei Wochen nach dieser Enthüllung im Marmorhaus das „Kabarett der Komiker“ mit der Bilderfolge „Rosen auf den Weg gestreut“ eröffnet. Unter den Solisten findet sich neben Evelyn Künecke auch Brigitte Mira, die nun zweimal täglich ihre Couplets vom „Geliebten Hundevieh“ in der neuen Vergnügungsstätte am Kurfürstendamm den Berlinern zu Gehör bringen kann.

Aber nicht allein Hunde werden geliebt. Am 6. Juni 1945 erscheint in der Täglichen Rundschau ein Bericht über die bevorstehende Wiedereröffnung des Zoos. Unter der Überschrift „92 Tiere leben noch“ darf auch dessen amtierender Direktor Ernst Uebrick zu Wort kommen. Der Zoologe erzählt nicht nur von den Fortschritten beim Wiederaufbau, sondern auch von den letzten Kriegstagen, vom tragischen Schicksal der Huftiere und ihres Betreuers: „In der Feuerpause ging der Pferdewärter Eberhardt zu seinen Wildpferden, Ponys, Zebras und Eseln und tränkte sie. Auf dem Rückweg zum Unterstand ist er gefallen. Von seinen Pfleglingen, für die er das Leben geopfert hat, blieb nur ein Esel übrig.“ André Meier

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