: Contreras
(...) mein Wort darauf, daß ich die schreckliche Fregatte nicht gesehen habe, die ihn begleitete, besser gesagt, die ihn erwartete, dicht am Drehkreuz der U-Bahn, wie eine vorzeigbare, gehorsame, treue Braut. Erläutern wir, es war an der U-Bahn-Station Chacarita; als ich ihn entdeckte, war er allein, stand in der Schlange, um Karten zu kaufen, und ich stand auf dem Bahnsteig. Die Drehkreuze trennten uns, und weil ich ihn rief – erstaunt, aufrichtig erfreut –, verpaßte ich meine U-Bahn. Aber wer tatsächlich verloren hatte, war er. Dick, mitgenommen, unentschlossen, näherte sich mein alter und bewunderter Tangosänger, um mich zu begrüßen. Ich bin ruiniert, sagte er sich vielleicht, ich hab verloren. (...) Unschlüssig sagte er zu mir: „Meine Braut.“ Dunkel, wunderlich, ausgedient, sehr groß, schien sie eine Leibwache der Cegeté; übertrieben angepinselt, trug sie ein Paar Pantoffeln mit Absatz, die die Üppigkeit dicker, dunkler Zehen sehen ließen, mit moosgrün lackierten Nägeln; sie trug einen roten Rock, sehr eng und unerträglich kurz, der ein Paar Knie unbedeckt ließ, um die sie jeder Fußballer beneiden würde; sie hatte ein Gesicht, ähnlich denen der Kommunisten in den Geschichten von Columba. Die unterentwickelte Person kaute Kaugummi; ab und zu konnte ich angefaulte Zähne sehen und die völlige Abwesenheit von Zähnen. Sie betrachtete mich von den Mokassins bis zum Schnurrbart, hielt eine Sekunde an meinem Hosenschlitz inne; natürlich schaute sie mir auch in die Augen. Ein Paar in der Kombination von abgetakelter Fregatte und Taschendieb-Gigolo von Terminales.
Sie hieß Irma. Selbstverständlich wußte Fatiga nicht, was tun, um zu entkommen; er schaute mich an, wie um mich flehentlich zu bitten, vielleicht um mir zu sagen, laß es dir bitte nicht einfallen, das zu schreiben. (...) „Er macht Bücher“, sagte er zu Irma, die schon in der U-Bahn war, wobei er auf mich zeigte. Wir setzten uns einander gegenüber. „Ah,was für eine hübsche Sache. Also machst du Bücher, Bübchen?“ „Ja, ich mache Bücher“, sagte ich. „Bücher lese ich oft, weißt du. Nun, ich habe sie gelesen. Jetzt lese ich wenig, aber ich lese gern.“ „Das finde ich sehr gut“, sagte ich. „Bücher sind hübsch, Zeitschriften auch, Zeitschriften lese ich auch oft, mehr als Bücher. ,Gente‘, die ,Vosotras‘, hast du gesehen? Fotoromane lese ich auch.“ Irma sprach sehr laut, ihre Stimme war schwerfällig, Fatiga wußte nicht, wohin er sich verkriechen sollte; ganz rot, lehnte er sich nach hinten, blinzelte mir zu, biß sich auf die Lippen. Irma vertraute mir an, daß sie als junges Mädchen auch selbst geschrieben habe. „Wir sind Zwillingsseelen“, sagte ich zu ihr. „Kleine Verse habe ich geschrieben, Bübchen. Aber als ich ganz jung war. Als Erwachsene habe ich nicht mehr geschrieben.“ „Weil Sie sich nicht wieder verliebt haben“, sagte ich. „Nein ... Bist du verrückt, he? Natürlich bin ich verliebt“, und sie klatschte Fatiga einen Kuß auf die Wange. „Am Ende fange ich wieder an, Verse zu schreiben.“ „Oh, das sollten Sie“, sage ich. „Erinnern Sie sich an keins, das Sie geschrieben haben?“ „Nein, ich habe die Gedichte alle vergessen.“ „Wie schade“, sagte ich, „denn ich könnte etwas veröffentlichen lassen.“
Fatiga schaute mich nicht einmal an; er versuchte zu lächeln, er hatte sich eine Zigarette angesteckt, obwohl Irma zu ihm sagte: „Aber, Schweinchen, hier willst du rauchen? Wie ihr bloß seid.“ Er hatte sie angesteckt, weil er nicht wußte, was er mit den Händen tun sollte, vielleicht war er im Zweifel, ob er die Fregatte streicheln sollte oder rauchen oder mich abschlachten. Ich denke – ja, ich hätte es verdient –, Fatiga hatte Lust, mich umzubringen (...) „Ihr seid ein tolles Paar“, sagte ich. „Meinst du.“ „Meine ich“, sagte ich. Fatiga blieb schweigsam. „Das werde ich ausführlich in dem Buch erklären – daß ihr nicht nur ein tolles Paar seid, sondern daß man sieht, daß ihr einer für den anderen da seid, was so schwierig ist in diesen Zeiten.“ „Meinst du.“ Fatiga versucht zu lächeln; hinter dem Rücken der unterentwickelten Person zwinkert er mir zu, als wolle er sich zu meinem Komplizen machen, als ob er und ich uns über sie lustig machten. Angespannt, glaube ich, daß er außerdem zitterte: Denn Irma stürzte sich auf ihn, küßte ihn und wollte geküßt werden, während ich die Geschichte ausdachte. Es war in der U-Bahn (und was mag er denken, was sich die Leute von Dominico ausmalen), als ich Lust bekam, das Böse zu tun, zu schreiben und ihn zu ärgern. Wir kamen an der Station von Pueyrredón vorbei, wo ich aussteigen mußte. Schade.
„Sie müssen wissen, Irma, Ihr Bräutigam war ein großer Tangosänger.“ „Ja, das hat er mir schon erzählt. Jetzt singt er die Tangos nur noch für mich. Nicht wahr?“ „Und dann sollten Sie wissen, daß er auch ein großer Rezitator war. Erinnerst du dich an diesen Vers von Contreras?“ Fatiga lächelte; Lächeln ist Bejahung. „Ja, Señor, ich bin Contreras“, sagte ich langsam.
Immer hat er es vorgetragen, und er trug es wirklich sehr gut vor, bei den Sängerwettbewerben, an der Ecke, bei Geburtstagen, bei den Ausflügen von Quilmes. (...)
Die Leute stiegen aus, wir schauten uns an, ich sagte ihm eine große Lüge:
„Du bist noch derselbe, im Ernst, Fatiga.“ Vielleicht ist die Lüge eine der Grundlagen der Schöpfung, und ich glaube nicht, daß dir das wichtig ist. Sicher ist, daß du mir nicht geglaubt hast, daß du derselbe bist.
„Wie du mich auf den Arm nimmst!“ sagte er zu mir. „Ich schwöre dir, daß ich dich unverändert finde.“ Überhaupt nicht, kein Vergleich mit jenem Fatiga, dem Tangosänger, mit jenem trinkfesten Burschen, der bei den Picknicks in Punta Lara, wenn wir mit Vinarios Lastwagen fuhren, der der erste war, der eine Frau eroberte, eine Frau für den Vormittag und eine andere für den Nachmittag, wenn möglich eine Blonde und eine Dunkle. Er hatte nichts gemeinsam mit jenem Fatiga, der einen schwarzen Anzug trug, glänzend, unvergeßlich, und geheimnisvolle und himmlische Frauen hatte, die ihn im Wagen besuchten (du erzähltest, daß sie gierig, untreu, gequält waren, daß sie Tabletten nahmen). Und mein Schwager kaufte sein erstes Auto und hatte sich mit meiner Schwester verheiratet, und Fatiga war noch immer auf den Bällen, an der Ecke und bei den Wettbewerben, mein Schwager war Vater eines schönen kleinen Mädchens, das Gabriela hieß, und ich war ein närrischer, glücklicher Onkel, und Fatiga war noch immer bei den Ausflügen von Quilmes, bei anderen Wettbewerben, und auch Sueñito hatte geheiratet und wurde wütend, wenn jemand ihn so nannte, seine Frau war schwanger und er Bankangestellter, und Fatiga tanzte noch immer an der Ecke Tango, mit der Laterne und den Mücken und der Gleichgültigkeit der Nachbarn, und Vinario war schon gestorben, und Walter hatte sich in die Schieberei mit Entführungen gemischt und war im Gefängnis geendet, und Fatiga wurde wenig im Viertel gesehen. Culino zog weg, und Daniel Cuchara wurde reich mit seiner Furnier- und Anstreicherwerkstatt, und auch ich ging aus dem Viertel weg und wurde Schriftsteller, und niemals mehr haben wir uns wiedergesehen – bis neulich nachmittags in Chacarita, und ich schwöre noch einmal, daß ich nicht gesehen habe, mit wem er da war, sonst hätte ich nicht gewagt, ihm zuzurufen, erstaunt, aufrichtig erfreut: „Fatiga!“
Wir stiegen alle drei in Florida aus, Irma stieg eine Treppe höher als wir, in die Bahn. Fatiga näherte seine Lippen meinem linken Ohr, um zu sagen: „Schreib's nicht, hm.“Jorge Asis
Übersetzt von Kristina Hering; aus: „Erkundungen. 21 Erzähler vom Rio de la Plata“, Herausgegeben vom Haus der Kulturen der Welt, Verlag Volk und Welt, Berlin 1993
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