: Die Festung Europa in Lateinamerika
Buenos Aires ist eine europäische Mischung. Die Migranten aus Bolivien oder Paraguay werden von den heimisch gewordenen Spaniern, Italienern oder Deutschen an den Rand gedrängt ■ Von Bernd Pickert
Fünfzehn Kugeln hatte der Padre im Leib, als seine Anhänger ihn fanden, an jenem Tag im Mai, vor zwanzig Jahren. Fünfzehn Kugeln für den Padre Mujica, der gesagt hatte: „Redet nicht so über meine Brüder aus der „villa“.“ Nur wenig entfernt von der „villa“, dem Elendsviertel, wo Padre Mujica arbeitete, zieht sich an seinem zwanzigsten Todestag eine kleine Karawane durch die Ansiedlung einfacher Häuser und Hütten, durch die „villa 31“ neben dem Kopfbahnhof El Retiro. An der Spitze tragen Priester ein großes Holzkreuz, es folgen etwa zweihundert Menschen mit Kerzen in der Hand. Sie ziehen vorbei an den einfachen Häusern aus Stein und Mörtel. Kleine Häuser, die höchstens fünfundzwanzig Quadratmeter Erde für sich in Anspruch nehmen. Selbst das ist zuviel. Schon ragt neben einem Haus ein Betonpfeiler in die Höhe, schon liegen zwischen zwei der Häuser nur noch Trümmer. Zwanzig Minuten sollen die Arbeiter des Autobahnbaus gebraucht haben, um das Haus einzureißen, an dem seine BewohnerInnen jahrelang gebaut hatten. Zwanzig Minuten, um aus ihrem Besitz ein Häufchen Müll zu machen. Der Priester stellt das Holzkreuz dort auf, wo der nächste Pfeiler wachsen soll.
Die neue Autobahn, der Zubringer in die Stadt, dort, wo man den Busbahnhof El Retiro modernisiert, wird fertigbringen, was die argentinische Militärdiktatur in den Jahren 1976 bis 1983 nicht geschafft hat. Sie wird die „villa 31“ kaputtmachen. Die Priester, die sich zur Messe für den Padre Mujica eingefunden haben, wissen das. Und doch unterstützen sie jene BewohnerInnen, die nicht bereit sind, die paar Pesos Entschädigung von der Stadtverwaltung anzunehmen, damit sie aus ihren Häusern verschwinden. Es wird eng für die „villas“ im Stadtgebiet. Die Wirtschaftskrise fördert zwar die Verarmung – noch mehr aber den Willen zur Segregation, zur „sozialen Apartheid“, zur Säuberung.
Da ist etwa Boca, jenes Hafenviertel, wo die Einwandererschiffe einst landeten. Bunte Touristenbars mit Original-Tango-Kapellen am stinkenden Hafen, der ach so pittoresk aussieht und doch regelmäßig die Pest über die Bewohner bringt, wenn der Fluß wieder einmal über die Ufer tritt und die Straßen überschwemmt. Das Hafenbecken soll jetzt gereinigt werden, langsam und vorsichtig, denn niemand weiß, was da für Gift im faulen Wasser liegt.
1871 hatte das Gelbfieber die Reichen aus „La Boca“ in den Norden vertrieben. Im Süden blieben die Armen. Wenn in Boca tatsächlich der neue Yachthafen entsteht, so wie es sich die Stadtplaner vorstellen, dann werden auch sie gehen müssen. Es werden jene gehen müssen, die dort wohnen, wo die Touristen nicht mehr hingehen, wenn sie die Gasse der Kunstmaler zu Ende abgeschritten haben, weil ein großer Haufen Müll ihnen den Weg versperrt. Dort ist alles lehmig, faulig und staubig.
Den Armen wird nichts übrig bleiben, als weiter nach außen zu ziehen, in den „conurbano“, wo die Stadt sich weiter ausdehnt. Wo die Avenida Rivadavia, die mitten aus dem Stadtkern nach Norden führt, ihre Hausnummer 40.000 erreicht, wo kaum noch europäische Gesichtszüge zu sehen sind, wo der Großraum Buenos Aires längst die Elf-Millionen-Grenze überschritten hat und niemand so genau weiß, wie viele Menschen es eigentlich sind, die aus dem Landesinneren hinzuziehen. Aus allen Landesteilen strömen sie in die Stadt auf der Suche nach Arbeit.
Die meisten scheitern schon an der Stadtgrenze. Der Stadtkern von Buenos Aires, jener eigentlich kleine Nukleus, der die Hauptstadt bildet, bleibt fest in europäischer Hand. Im Laufe der Jahrzehnte ist der Lebensstil der Nachkommen der spanischen, italienischen, baskischen und deutschen, ja selbst der arabischen und jüdischen Einwanderer immer unterschiedsloser geworden. Sicher, es gibt noch das deutschsprachige Argentinische Tageblatt. Im TV-Kabelnetz sind noch sämtliche italienischen RAI-Programme zu empfangen, und an jedem zweiten Kiosk gibt es den Corriere della Serra. Auch die Aussprache ist italianisiert – und ein echter „porteño“, einer vom Hafen, wie sich die Bewohner von Buenos Aires nennen, sucht nicht „trabajo“, Arbeit auf spanisch, sondern „lavoro“, Arbeit auf italienisch.
Man erwischt auch mal einen Taxifahrer, 1945 eingewandert, der noch beim Vorbeifahren an den Trümmern der Synagoge von „La Amia“, die im vergangenen Jahr durch eine Autobombe zerstört wurde, auf das ganze verjudete argentinische System schimpft – um dann eine Denkpause zu machen und zu bemerken: „Es gibt viel Rassismus in Argentinien.“ Und doch ist die Trennung zwischen den europäischen Einwanderergruppen, die in dritter, vierter Generation in Buenos Aires leben, längst weitgehend aufgehoben.
Wer heute aus dem Rahmen fällt, das sind die koreanischen Neuankömmlinge. Sie kommen mit Geld, haben den Ruf stoischer Sparsamkeit und ewiger Nüchternheit, würden nie ihre Zeit im Straßencafé verschwenden und gehen dem „porteño“ schon allein deshalb auf die Nerven. Aber sie haben es in wenigen Jahren geschafft, im überwiegend jüdisch geprägten „barrio Once“ Fuß zu fassen und zum Wirtschaftsfaktor in der Hauptstadt zu werden.
Sie sind eingedrungen in jene europäisch geprägte Mittelschicht aus Handel und Dienstleistung. Die Mittelschicht, die in den beengten Wohnblocks lebt, mit den hübschen kleinen Aufzügen mit Gittern dran, ganz wie in der großen Vorbildstadt Paris, nur daß sie hier regelmäßig die Schächte hinunterfallen und die Zeitungen von unerklärlichen Unfällen schreiben. Die Wohnblocks haben lichtlose kleine Wohnungen. Eigentlich bleibt den Menschen gar nichts anderes übrig, als das Leben nach außen zu tragen, in die unzähligen Cafés und Bars. Sie bevölkern die Straßen, diese Unräume voller Gestank und latenter Gewalt, wo jeder einzelne der Zehntausenden von Taxifahrern ganz gezielt Jagd auf die Fußgänger macht und jedem, den sie entwischen lassen, noch ein „Hurensohn!“ hinterherrufen. Jene Mittelschicht, die in den Cafés noch immer damit beschäftigt ist, auszusehen wie Julio Cortazar und tiefsinnige Gespräche zu führen, während uralte Kellner im Vorbeischlurfen einen frischen Kaffee und ein Glas Soda servieren. Jene Mittelschicht, die so stolz darauf ist, das Land aufgebaut zu haben, Argentiniens Reichtum begründet zu haben; die bei jeder sich bietenden Gelegenheit verkündet, daß Gott irgendwie gedöst habe, als er Argentinien schuf, und plötzlich hatte Argentinien einfach alles, was er zu vergeben hatte: drei Klimazonen, die fruchtbarsten Ländereien der Erde, Bodenschätze, Berge und Meer, Tropen und Polarkreis, Fischreichtum und Fleisch. Und der Herrgott rieb sich die Augen und überlegte, daß kein Land nur Gutes verdient habe, und so gab er Argentinien seine Menschen. Die nämlich, davon sind die europäischen „porteños“ überzeugt, wollen nicht arbeiten, sind faul und unzuverlässig, stinken, wollen immer nur feiern und sind latent kriminell. Fast so schlimm wie die Bolivianer. Deren Frauen haben keine Unterwäsche an, hocken sich überall hin und scheißen, wo sie wollen. Und arbeiten wollen die natürlich auch nicht – aber durchfüttern sollen wir sie. Eine Million sind schon in Argentinien. Vor dem Supermarkt sitzt diese Frau und verkauft Gemüse. Bolivianerin natürlich, sieht man doch von weitem. Zahlt die etwa Steuern?! Und ihre Kinder laufen bestimmt herum und klauen. Oder betteln. Ein Glück, daß die Regierung angekündigt hat, damit Schluß zu machen. Zumindest vor der Wahl. Im gleichen Atemzug hat sie dann noch ein paar tausend Paraguayer – die sind ein bißchen weißer – eingebürgert und ihnen das Wahlrecht erteilt. Die haben sich bedankt.
Der Platz für die Bolivianer und Paraguayos ist nicht die reiche Avenida Corriente mit ihren Einkaufszonen und den Elektrogeräten auf Ratenzahlungen. Ihr Ort ist der „conurbano“, der Stadtrand, genau wie für die ArgentinierInnen aus den Provinzen des Landesinneren. „Das Landesinnere“, das ist für den Hauptstadtbewohner alles, was nicht Hauptstadt ist, ob nun die Provinz Chaco, Entre Rios oder Tucuman. Die Geschichte der Stadt Buenos Aires ist auch eine Geschichte des Kampfes gegen den Rest des Landes, die Geschichte der Ermordung der Ureinwohner durch die Europäer. Die ersten Reichen aus Buenos Aires verdankten ihren Reichtum der Vertreibung der UreinwohnerInnen des Südens. Die Städte Argentiniens wurden Bollwerke des weißen Vormarsches. Nirgendwo wurde so nachhaltig europäisiert, wurde so radikal alles indigene verdrängt, vertrieben, ausgerottet wie in Argentinien.
Der Konflikt zwischen Zentralregierung und Provinzen in Argentinien ist vor allem ein Konflikt zwischen der Hauptstadt und dem Rest. Schon in Rosario, in der Nachbarprovinz Santa Fe, erzählt jeder, daß die ganze schwierige wirtschaftliche Lage Argentiniens nur daran liege, daß die Regierung sich ausschließlich darum schere, daß in Buenos Aires genug Geld vorhanden sei. Deshalb saugt sie Provinzen aus, bis diese nichts mehr hergeben. Nie ist geklärt worden, wer eigentlich für das Regieren der Hauptstadt zuständig ist. Der „intendente“, der Bürgermeister ohne Macht, wird bis heute vom Präsidenten der Republik eingesetzt. So wird die Hauptstadt mit ihren rund drei Millionen EinwohnerInnen praktisch vom Präsidenten regiert. Der Großraum Buenos Aires aber, also der
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viel bevölkerungsreichere „conurbano“, steht unter der Verwaltung der Provinz. Ergebnis: Eine gemeinsame Stadtregierung gibt es nicht, und alle Versuche, irgendwelche Modelle auszuarbeiten, um Buenos Aires eine echte kommunale Verwaltung zu geben, scheitern an den unversöhnlichen Interessen der Beteiligten.
Das Randgebiet, der „conurbano“, gewinnt dabei mehr und mehr an Gewicht. 1869 hatte der Stadtkern 187.000 EinwohnerInnen, der conurbano gerade mal 42.000. Heute hat die Hauptstadt drei Millionen, der Stadtrand aber schon acht, also zweieinhalbmal soviele. Bei den Wahlen Mitte Mai gewann Präsident Menem vor allem, weil der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, sein Parteifreund Eduardo Duhalde, im Stadtrandgebiet auch für ihn gewann. Jetzt rechnet sich Duhalde Chancen aus, 1999 Präsident werden zu können – mit Hilfe des „conurbano“, versteht sich, wo rund ein Drittel der WählerInnen Argentiniens leben.
Zum Beispiel in Quilmes, im Westen der Hauptstadt, eine Dreiviertelstunde mit dem Vorortzug von der Station Constitución aus zum Bahnhof Quilmes und dann mit dem Bus abwärts, bis es nicht mehr weitergeht, weil das sumpfige Uferland des Rio de la Plata weder Straßen- noch Häuserbau zuläßt. Südlich der „Avenida Mozart“, einer erst teilweise gepflasterten Straße mit großen Müllhaufen an jeder Ecke, schwemmt der Fluß mehrmals im Jahr alles weg. Die Wellblechhütten, die am weitesten zum Wasser hin gebaut sind, waren bei der letzten Überschwemmung noch nicht da – nach der nächsten werden sie wieder begraben sein im fauligen Schlamm des Flusses. Ihre BewohnerInnen werden neue Hütten bauen, vielleicht an der gleichen Stelle, vielleicht an einer anderen.
Die meisten hier kommen aus Entre Rios, der nördlichen Nachbarprovinz von Buenos Aires. Dort schafft die intensive Viehzucht längst nicht mehr genug Arbeitsplätze. Aber auch hier in Quilmes gibt es keine Arbeit. Die Brauerei, die das „Quilmes“-Bier herstellt, das ins ganze Land geliefert wird, sponsort zwar den Fußballklub von Quilmes und hat ein neues Stadion finanziert. Arbeitsplätze bringt sie nur wenige.
Padre Luis Farinello arbeitet mit den Menschen in der „villa“. Er hat schon vieles ausprobiert, um Arbeitsplätze zu schaffen. Zuletzt versuchte er einen kleinen Betrieb zur Herstellung von ledernen Schuhen, Handtaschen und Briefbörsen aufzubauen – aber „als alle Freunde von uns irgend etwas gekauft hatten, war der Markt auch schon gesättigt. Zudem sind uns die Sachen etwas rustikal geraten“, fügt er grinsend hinzu. Jetzt macht der Padre in Windeln. Dafür ist der lokale Markt vorhanden. Ein Fehler im Stromnetz hat jedoch eine Maschine verkokelt, so daß die Produktion zunächst stillsteht.
In der kleinen Kirche des Padre Farinello, die Straße entlang bis zum Fluß, leuchtet ein rotes Schild: „Ruhe, Aufnahme!“ In einem Glaskasten sitzt Padre Zurita und macht ein Zeichen Richtung Glaswand. Die Studioleiterin drückt auf den Knopf des Kassettenrekorders, schiebt einen Regler des kleinen Mischpults herunter und einen anderen hoch, und über die klirrenden Monitorlautsprecher ertönt Cumbia-Musik. Padre Zurita ist Bolivianer, und seine Sendung ist für die bolivianische Gemeinde in Quilmes. Er weiß, daß seine Leute unbeliebt sind, sowohl bei der europäischen Mittelschicht in der Hauptstadt, als auch bei den Gewerkschaften. Sie fürchten die Konkurrenz der BolivianerInnen als billige Arbeitskräfte. Viele der BolivianerInnen sprechen nicht einmal spanisch, sondern können sich ausschließlich auf Quetchua verständigen. Und so ist auch ein Teil seiner Sendung in der Indiosprache Quetchua.
Diese BolivianerInnen haben in ihrer Heimat keine Perspektive. In Buenos Aires auch nicht. Sie sind die letzten in der ethnischen Hierarchie. Was ihnen bleibt, ist die Sehnsucht, das Zusammenleben, ihre Musik, ihre Feste. Viele aber trauen sich überhaupt nicht heraus, weil sie keine Papiere haben und Angst vor der Polizei. Sie arbeiten fast ausschließlich für ihre Papiere, bekommen schließlich Fälschungen, die sie nicht erkennen können und werden dann doch geschnappt und ausgewiesen. Der Kampf der europäischen EinwanderInnen gegen die Lateinamerikaner – in Buenos Aires ist er noch nicht zu Ende.
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