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Postsowjetische Spielchen

Die junge russische Dichterin Alina Wituchnowskaja sitzt seit sieben Monaten wegen angeblichen Rauschgifthandels in Untersuchungshaft. Der russische PEN-Club engagiert sich nun für die suizidgefährdete Lyrikerin  ■ Von Barbara Kerneck

Kein Prozeß seit den Verfahren gegen Dissidenten-Schriftsteller vor 20 Jahren hat einen großen Teil der russischen literarischen Öffentlichkeit so auf die Barrikaden gebracht wie der gegen die einundzwanzigjährige Lyrikerin Alina Wituchnowskaja. Morgen beginnt die Verhandlung gegen sie vor einem Moskauer Kriminalgericht, seit sieben Monaten sitzt sie in Untersuchungshaft im berüchtigten Butyrka-Gefängnis, zuerst mit dreißig, jetzt mit fünf Frauen in einer Zelle. Alina wird des Rauschgifthandels bezichtigt. Als ihre „Verteidiger im Namen der Gesellschaft“ treten vier Mitglieder des russischen PEN-Zentrums auf: der Dichter Andrej Wosnessenski, Junna Moriz – ebenfalls Lyrikerin – und die beiden Schriftsteller Alexander Tkatschenko und Arkadi Waksberg. Letzterer ist durch seine Bücher über russische Kriminalität und Strafvollzug von der Stalinzeit bis heute auch in Deutschland bekannt geworden.

Andrei Bitow, Präsident des russischen PEN-Clubs, äußerte in einem Brief an das zuständige Volksgericht „große Besorgnis“ über das Schicksal Alina Wituchnowskajas. Darin erklärt er ausdrücklich, auf die Anklage gegen Alina vorerst nicht eingehen zu wollen und schreibt: „Wir können ihre Persönlichkeit charakterisieren, und – was die Hauptsache ist – ihre poetische Begabung. Schon bei ihren ersten literarischen Versuchen erwies sie sich als talentierte Dichterin mit ausgeprägter Persönlichkeit und einer sehr feinen Intuition ... Der Gefängnisaufenthalt – zumal als Vorbeugungsmaßnahme und nicht als Strafe – ist eine schwere Belastung für die Psyche Alina Wituchnowskajas und könnte sich extrem negativ auf ihre dichterische Begabung auswirken, ja sie sogar zerstören“.

Sonderrechte für eine sensible Dichterin?

Werden hier Sonderrechte für eine Lyrikerin verlangt, die man für ein besonders verletzliches Wesen hält? Derlei läge durchaus in der Tradition dieses Landes, und man könnte die ganze Intervention als eine typisch russische Schrulle abtun. Wenn ..., ja wenn nicht erstens die Persönlichkeit der jungen Dichterin und zweitens das Gerichtsverfahren gegen sie einige Besonderheiten aufwiesen, die dieses Schreiben immerhin diplomatisch verschweigt.

„Eigentlich hat sie sich nie so richtig gefreut“, erzählt ihre Großmutter. Alina liebte Reime schon als ganz kleines Kind, mit sechs begann sie, kleine Verse zu diktieren. Damals war sie tief verletzt, weil die Mutter die Familie verlassen hatte. Ihr Vater arbeitete danach als Retuscheur zu Hause. Sie fühlte sich von klein an zum Ruhm bestimmt, tat sich schwer mit Konventionen und Gleichaltrigen und haßte die Schule.

Immer wieder litt sie unter schweren Depressionen. 1994 unternahm Alina vier Selbstmordversuche mit Medikamenten. Auf eigenen Wunsch begab sie sich danach in psychotherapheutische Behandlung. Ihre Therapeutin diagnostizierte eine erbliche Psychose: vier Verwandte Alinas hatten ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Trotz ihrer psychischen Krisen konnte Alina 1993 und 1994 zwei Gedichtbände veröffentlichen: „Kinder-Totenbuch“ und „Anomalien“. Sie begann in einer Clique junger Künstler, Filmleute und Bohemiens zu verkehren. In dieser Gruppe experimentierten einige Leute mit Rauschgift. Ihrer Großmutter erzählte sie, sie habe selbst zweimal aus reiner Neugier LSD probiert und es eigentlich nicht besonders angenehm gefunden. Als Resultat ihrer Drogenerfahrung schrieb sie in der Zeitschrift Nowoje Wremja einen Artikel über LSD.

Die beiden jungen Männer, die die Droge bei ihr gekauft haben wollen, wurden am 16. Oktober 1994 nach der angeblichen Tat in der Metro-Station „Retschnoj Woksal“ verhaftet. Nicht aber die „Dealerin“ Alina – eines der Rätsel, das die Anklageschrift aufgibt. Statt dessen erwartete sie bei ihrer Heimkehr ein Hausdurchsuchungskommando, das ihr die Handtasche entriß und in ihrem Zimmer 621 Gramm LSD fand. Seltsamerweise wurde jedoch keine der fünfzehn Personen verhört, die bezeugen wollen, Alina zur Zeit des angeblichen Drogenverkaufs im Szene-Klub „Ne bej Kopytom“ gesehen zu haben.

Die Anklage weist Unstimmigkeiten auf

Die Anklageschrift wimmelt nur so von Verletzungen der Verfahrensregeln. So werden – gegen internationales und auch russisches Recht – Tonbandprotokolle des Föderalen Antispionagedienstes (einst KGB) als Beweismittel präsentiert, der Alina zehn Tage vor ihrer Verhaftung abzuhören begann. Die Originalbänder liegen allerdings nicht bei. „Das sieht gerade so aus, als ob ein paar V-Leute ihre Erfolgsstatistik in die Höhe treiben wollten“, meint Vater Sascha.

Aus dem Gefängnis geschmuggelte Aufzeichnungen zeigen, daß Alina ihre Situation anfangs wie ein neues Experiment behandelte, dem sie sich freiwillig unterzog. Sie schrieb: „Konzeptionelle Aktion in Fortsetzungen. Arbeitstitel – Alina im Gefängnis. 1./ Die Aktion hat Anspruch auf Einzigartigkeit wegen ihrer Dauer, und auch wegen des hohen Risikos und Gefahrengrades, dem sich ihr Hauptteilnehmer unterzieht (Das Objekt) – Alina (also ich). 2./ Ziel – das Publikum verblüffen. 3./ Arbeitsmaterial – mein Leben. 4./ Hauptkomponenten: Überraschung. Krasse Nichtübereinstimmung zwischen der Persönlichkeit des Teilnehmers der Aktion (mir) und dem Schauplatz der Aktion (Gefängnis). Maximale Einbeziehung real agierender Personen (eines gewissen Föderalen Gegenspionagedienstes und anderer). Den handelnden Personen ist das Drehbuch nicht bekannt und der Ablauf der Aktion ist deshalb nicht vorhersagbar. 5./ Die Unschuld des Hauptobjektes (meine) zu Beginn ...“

Es scheint, als habe das postsowjetische Strafvollzugssystem in Alina die ideale Partnerin für seine Spielchen gefunden. Als sie ins berüchtigte Serbski-Institut für Gerichtspsychiatrie eingeliefert worden war, brüstete sie sich in hinausgeschmuggelten Briefen an eine Freundin, wie geschickt sie aufgrund ihrer privaten Psychologiestudien hier die ÄrztInnen an der Nase herumführe. Und dem Vater erzählte sie: „Zuletzt hat mir die Gutachterin angeboten: sie können selbst bestimmen, ob wir sie für gesund oder krank erklären. Da habe ich gesagt: gesund“.

Diese Happening-Pose hielt die Jung-Poetin allerdings nicht durch. Auch im Gefängnis hat sie Selbstmordversuche unternommen. Ihre Besuchsanträge sind mit einem roten Strich markiert: hohe Suizidgefährdung. Vater Sascha durfte seine Tochter in den sieben Monaten gerade zweimal besuchen. Er berichtet: „Die schlechte Luft und das halbverdorbene Essen haben Alinas Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen. Sie klagt über Fieber und Ohnmachtsanfälle. Ihre Zähne wackeln. Außerdem leidet sie unter Sehstörungen, und ihre Augäpfel sind gelbverfärbt“.

Alina besteht darauf, unschuldig zu sein. Ihr Anwalt, ihre Familie und die russische Stiftung zur Verteidigung von JournalistInnen „Gefährliche Zone“ glauben ihr. Sie halten es außerdem für unwahrscheinlich, daß Alina Wituchnowskaja eine Verurteilung lange überleben würde.

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