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Schirm & ChiffreRealistisch, impressionistisch, virtuell

■ Christo als Jack in the box: Ver- und Enthüllungen zum Dauerbrenner der Saison über das Internet

Wenn in wenigen Stunden die Stoffbahnen über den Reichstag fallen, dann wird das im Internet zu sehen sein. Die KULTURBOX (taz vom 11. 5., Adresse: http://www.kulturbox.de) bietet der weltweiten Netzgemeinde nämlich unter anderem einen Fotodienst. Dafür wird auf dem Glockenturm gegenüber dem Reichstag eine Kamera installiert. Hypertextuell liest sich das derzeit noch so: „Diese Kamera wird ständig Bilder vom aktuellen Stand des Projektes liefern, die in etwa so aussehen: [Image Bild vom Reichstag].“

Ja, hier haben die MediadesignerInnen um Ingo Braun (vgl. taz vom 12. 6.) uneingeschränkt Lob und Ehre verdient. Die BenutzerInnen-Führung der Kulturbox ist gelungen. Die Homepage (Begrüßungsseite) lädt mit ihren wohlgestalteten Logos und Buttons zum Klicken ein. Die Folgeseiten bauen sich innerhalb von vertretbaren Wartezeiten auf.

Was aber gibt die Kulturbox inhaltlich her? Für alle, die nicht ans Internet angeschlossen sind, hier eine Folge willkürlich zusammengetragener Exzerpte, die ich während meiner Netzspaziergänge aufgepickt habe. Auf der Seite ENTHÜLLEN DURCH VERBERGEN perlt dem User biographischer Legendenkitsch entgegen: „René Bourgois, der in Paris einen exklusiven Friseursalon führte, war von Christos Werk beeindruckt und empfahl ihn der Frau des Generals de Giullebon [...]. Seine Tochter Jeanne Claude lernte Christo kennen, als er ihre Mutter in drei Versionen porträtierte, in realistischer, impressionistischer und kubistischer Manier. Bald schon hatte sie sich in den mittellosen Flüchtling aus Bulgarien verliebt.“ (Q 1995 by Christo & Taschen Verlag).

Aber die Kulturbox bietet auch Künstlerpaaren, die es noch nicht zu Weltruhm gebracht haben, eine Plattform. Die „notizbuchgestützten Informationssysteme“ (Ingo Braun) präsentieren sich dann beispielsweise so (BERLINER KÜNSTLER A–Z, Abt. F): „Frau Franken & Herr Blondini sind ein schon optisch sehr unterschiedliches Duo, das für sehr originelle Unterhaltung vom Feinsten steht. Animation, humorvoller Rahmenwechsel, Buffeteröffnungen oder Begrüßungen sind nur einige von vielen Spezialitäten, die hier auf eine wirklich persönliche und ausgefallene Art und Weise gestaltet werden.“

Recht gelungen ist das VIRTUELLE PARLAMENT. JedeR Internet-NutzerIn kann sich dort per e-mail-Votum zur Reichstagsverhüllung äußern. Zusätzlich ist die damalige Bundestagsdebatte zum Thema dokumentiert. Ein Klick auf das Konterfei Schäubles: „[...] Wir haben doch heute schon genügend Dinge, die uns Deutsche eher auseinanderbringen (Zuruf von der SPD: Sie! Ihre Rede!) und zuwenig Dinge, die uns zusammenführen. Wir sollten es uns nicht leisten, zu viele Menschen gleichsam am Wegesrand zurückzulassen, die ein solches Unterfangen nicht verstehen und nicht nachvollziehen können (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP).“

Da ist was dran. Niemand sollte am Wegesrand zurückgelassen werden. Weder am Reichstag (Bannmeile!) noch in den neuen Medien (Freier Netzzugang für alle!). – Genug geklickt. Die Box ist voll. Ich logge mich aus und gehe spazieren. Martin Muser

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