: Adrenalinstöße im Christo-Büro
Im Hauptquartier „Verhüllter Reichstag GmbH“ werden vor dem Verhüllungsspektakel Tage zu Nächten / Die Lagerung des Stoffes wird vom Büro zum Geheimnis stilisiert ■ Von Rolf Lautenschläger
Kurz vor der Mittagspause will sich der letzte Gurt, der die Holzlatten zum Schutz der dicken Säulen halten soll, nicht fest anziehen lassen. Leicht verärgert wirft der Kranfahrer seine Zigarette weg und steuert die ausgefahrene Hebebühne noch einmal Richtung Reichstag. Doch vom Korb aus gelingt es nicht, die breiten Schlingen festzuzurren. Es ist zum Verzweifeln. Gerettet wird die Pause schließlich durch zwei Reichstagskletterer, die sich wie Alpinisten an der Felswand bewegen. Kunstvoll seilen sie sich von der knapp vierzig Meter hohen Traufkante des Reichstagsgebäudes herunter, stoßen sich von der Fassade ab und beginnen zu schwingen. Wie ein Pendel fliegen sie hin und her, zirkeln sich an der Säule vorbei, und mit dem Schwung schaffen sie es, die Befestigungsgurte anzuziehen.
Gegenüber, im Haus Ebertstraße 27, in dem die Kommandozentrale „Verhüllter Reichstag GmbH“ logiert, registriert man solche kleinen Störungen bei den Gerüstbauarbeiten drei Tage vor dem Verhüllungsspektakel eher mit Gleichmut. Für die Geschäftsführer Roland Specker und Wolfgang Volz sowie weitere 17 Mitarbeiter liegen Streßsituationen auf einer anderen Ebene. Etwa der, „wenn Christos Frau Jeanne- Claude plötzlich auftaucht, in den Papierkörben herumwühlt und bestimmt, daß grundsätzlich beide Seiten eines Blattes zu benutzen seien oder die Schreibtische um wenige Zentimenter nach links oder rechts gerückt werden sollen“, schmunzelt Specker. „Das haben wir dann gemacht“, sagt der Geschäftsführer und zeigt auf ein Fach in seinem Schreibtisch, in dem „beidseitig zu beschriftende“ DIN-A4-Blätter liegen.
Natürlich kommen die Adrenalinstöße in der Wrapped-Reichstag-Zentrale auch von anderswo her. Im sogenannten „roten Bereich“ liegen Specker und Volz, der, mit Walkie-talkie, Schutzhelm und Werkzeugen bewaffnet, immer zwischen Reichstagsdach und Büro hin- und hersaust, seit Tagen. Volz, so Sprecherin Pamela Groß, koordiniere quasi nonstop den technischen und konstruktiven Ablauf des Projektes, während Specker der Finanzbeamte des Unternehmens sei.
Tagsüber bestimmen Konferenzen, Arbeitssitzungen mit den beteiligten Firmen, Anrufe nach New York ins Atelier des Monumentaleinpackers den Terminkalender. Mittagessen gibt es aus der Tüte. „Nachts“, sagt Specker, „erledige ich die Post und was sich sonst noch auf dem Schreibtisch angesammelt hat.“ Und das ist nicht wenig.
Nervenflattern bis zum 17. Juni
Für Volz, den Christo-Exklusiv- Fotografen, der sich derzeit mit den Montagearbeiten auf dem Reichstagsdach, an den Fassaden und den Fenstern des Hauses befaßt, steigt bis zum 17. Juni, dem Verhüllungsbeginn, die Spannung. Wird die silberne Hülle dann frei über das Gebäude fallen? Stimmen die puren Ingenieurarbeiten, die Auflagepunkte und Unterverkleidungen? Werden Christo und seine Frau toben, nervig wie immer sein oder in der Arbeit die ästhetische Hülle erkennen, wie sie in zahlreichen überdimensionalen Abbildungen, Zeichnungen und Fotografien an den Wänden des Büros zu finden ist?
Schon darum zeigt ein Blick in die Büros hinter dem Reichstagsgebäude, daß weniger künstlerische als vielmehr baulogistische Dinge den Alltag beherrschen. Für den Aufbau sei ein spezifischer Arbeits- und Montageplan ausgearbeitet worden, erzählt ein Monteur. Eingriffe in das Reichstagsgebäude seien von den Denkmalschützern quasi „für tabu“ erklärt worden. Alle Punkte für Aufhängungen oder Befestigungen mußten extra gebaut werden. In der Folge legte man ein Gerüst über das Reichstagsdach, richtete die Halterungen, Profile und Schienen und sei nun dabei, die Schutzverkleidungen zu befestigen.
Doch die kunstfremde Logistik ist nichts Ungewöhnliches. Vielmehr beherrscht die Räume dadurch eine Atmosphäre der Sachlichkeit und des Kalküls. Bis zur Fertigstellung, dem „Knall“ des Kunstwerks „Wrapped Reichstag“, scheinen die künstlerischen Wunschvorstellungen der Mitarbeiter dem Zweck geopfert. „Als wir mit vier Personen im Mai 1994 anfingen“, sagt Christo-Freund Specker, „war es natürlich ruhiger als jetzt, wo das Verhüllungsprojekt auf bis zu 1.500 Personen angewachsen ist, aber wir haben das Projekt immer wie ein Generalunternehmen geführt, das ein Haus baut.“
Der „One-Dollar-Man“ Roland Specker
Das Kalkulieren, Berechnen und Planen ist Speckers Hauptaufgabe. Der „One-Dollar-Man“, wie sich Specker selbst bezeichnet, da er ohne Honorar den Geschäftsführer mimt, lebt ebenso wie Christo auf Pump und in der Hoffnung, daß die 12 Millionen Mark durch das Projekt und dessen Vermarktung wiedereingespielt werden. Von seinem Arbeitsfeld geht der Aktivismus für ein Großprojekt aus, das nicht mehr nur den Künstler und sein Werk kennt, sondern als Unternehmen funktioniert. „Wir haben Stahlarbeiten für Millionen Mark ausgeschrieben“, sagt er. Ebenso mußten die 100.000 Quadratmeter Stoff in Auftrag gegeben und transportiert, Kräne, Baumaterialien, die Kletterer und das Aufsichtspersonal bestellt werden. Augenblicklich würden die letzten Rüstungen und Halterungen gefertigt, die ausbauchenden Käfige geprüft und zwischen Büro und Montageleitung verständige man sich über die notwendigen Abspannungen hinter den Fenstern für das Tuch.
Für die „Endfertigung“ brauchen er und Volz das Ehepaar Christo nicht – Lady Jeanne- Claude allerdings weilt seit Montag dieser Woche in Berlin, und wenn sie ins Büro kommt wie bei dem Gesprächstermin, stürzen ihr die Mitarbeiter förmlich entgegen. Sorge, daß etwas schiefgeht, herrscht im Christo-Unternehmen nicht. Specker: „Der Stoff wird nicht beliebig über die Unterkonstruktion gezogen.“ Sämtliche Abläufe des Aufbaus und die Schritte der Verhüllung seien im Computer vorgezeichnet, ja „vorberechnet“ worden.
Zwischen den Zahlen und Figuren ist viel Chaos, Zufälliges, Alltägliches im Hauptquartier der „Verhüllten Reichstag GmbH“ zu spüren. In dem von Christo und Jeanne-Claude 1994 gegründeten Ableger des New Yorker Büros surren ununterbrochen die Telefone, Bauarbeiter schlurfen durch die Flure, Fernsehteams geben sich die Klinke in die Hand. Käuferanfragen für Zeichnungen, Interviewwünsche kommen. Ben Wargin, der Umweltpate, ruft an, weil er zur Verhüllung ein Bäumchen pflanzen möchte, was ihm gestattet wird. Ein Bundestagsabgeordneter will Christo die Hand schütteln. Der sei noch in New York, fertige die letzten Zeichnungen, wimmelt eine Sekretätin ab. Wo der Stoff versteckt sei, möchte bald jeder wissen. Termine, Daten, Größen. Das Pressebüro und seine Berge von Papiermassen wurde mit 7 Mitarbeitern ans nahe Reichstagufer ausgelagert. Im einstigen Reichspräsidentenpalais entsteht eine Kantine, die ab dem 17. Juni täglich 24.000 Essen pro Tag kocht.
Der Stoff, aus dem ein Geheimnis wird
Trotz der Betriebsamkeit hat das Büro „Verhüllter Reichstag GmbH“ es noch geschafft, eine Fiktion mehr vor der Verhüllung zu schaffen. Ein Geheimnis wurde produziert. Vom Stoff reden gilt als Tabu. Seit gut einer Woche, erzählt eine Mitarbeiterin, befänden sich die Stoffmassen in Berlin. Der Ort werde aber geheimgehalten, damit das wertvolle Reichstagskleid nicht entdeckt, geraubt oder gar zerstört werden könne. Schon über den Transport der Paneele von Taucha nach Berlin sei der Öffentlichkeit nichts verraten worden.
Die Geschäftsleitung hüllt sich ebenso in Schweigen über den genauen Verbleib der Hülle, läßt aber durchblicken, daß sie „in einer sehr großen Halle“ aufbewahrt werde. Dort, sagt Specker, würden auch Verhüllungsversuche gestartet. In der Halle sei ein Stück Reichstagskulisse aufgebaut worden, an der der Stoff probeweise fällt. Das hat geklappt, sagt Stecker. Nur „The wrapped Reichstag“ wird schöner.
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