: Nicht nur Spiegelbild der Erinnerung
■ Gegenüber der alten Hofanlage an der Rosenthaler Straße entstehen die „Neuen Hackeschen Höfe“ mit Wohnungen und Läden der Architekten Bellmann & Böhm
Daß ein Spiegelbild nicht nur Abbild, sondern auch Zerrbild oder eine Steigerung des Originals sein kann, gehört seit den Tagen der Postmoderne und des „Anything goes“ zum Repertoire der Moderne. Die bauliche Steigerung und ein Zerrbild der bestehenden Hackeschen Höfe und ihrer unterschiedlichen Funktionen stellt das Konzept „Neue Hackesche Höfe“ dar. Gegenüber der alten Hofanlage mit ihrer verwinkelten Baustruktur hinter den Jugendstilfassaden August Endells soll ein U-förmiges Ensemble mit drei großen Höfen der Architekten Bellmann & Böhm entstehen.
Abbild der alten Höfe am Hackeschen Markt ist die Struktur der „Neuen Höfe“. Zwölf einzelne Wohn- und Gewerbehäuser entlang der Rosenthaler Straße bis zur Dircksenstraße, die Aufnahme der Baugrenzen sowie der Traufhöhe der umliegenden Architekturen rufen den historischen Stadtgrundriß in die Erinnerung.
In Alfred Döblins großem Roman „Berlin Alexanderplatz“ wird vielleicht das gelungenste Panorama einer in ihren Funktionen „verschmelzenden“ Gesellschaft in dem Viertel rund um den Hackeschen Markt aufgerissen. Arbeiter, Familien, Säufer, Huren und kleine Ganoven, Gewerbetreibende, Angestellte, Militaristen sowie Kinos, Kabaretts, Geschäfte, Büros, Wohnungen, Werkstätten und Gastronomien sind hier dicht gedrängt – und mitten unter ihnen Franz Biberkopf. Den Zweiten Weltkrieg überlebten die Hackeschen Höfe. Ihr Gegenüber, dort wo die Neubauten entstehen sollen, wurde zerbombt und was noch stand abgerissen, so daß sich bis dato eine kleine Grünfläche mit Parkplatz dort breitmachen konnte.
Bellmann & Böhm, deren Büro direkt über dem leeren Platz am Hackeschen Markt liegt, beließen es aber nicht bei den historischen Reminiszenzen. Statt verwinkelter dunkler Hinterhöfe planen sie lediglich zwei Seitenflügel, die einen großen Wohnhof umschließen und außerdem links und rechts zwei Gewerbehöfen Raum geben. Das Besondere der „Neuen Hackeschen Höfe“ aber sind die Bauten selbst, die die Architekten nicht auf Altberlinisch trimmten. Die Häuserzeile wird vielmehr mit modernen Formelementen und aus zeitgemäßen Materialien wie Glas und Stahl geformt und mit zurückspringenden Dachaufbauten in die Höhe getrieben. Der dreieckige Kulturpalast an der Dircksenstraße und das Nachbarhaus erhalten eine Fassade, die an die Industriebauten der zwanziger Jahre erinnern. Schnittige Flugdächer, große Fensterfronten, Bullaugen, Atelieraufbauten und strenge Gliederungen lassen ein Sammelsurium der Architektur der klassischen Moderne vorbeiziehen, das mit den Formen spielt und der Architektursprache einen Unterton der Ironie verleiht. Nur ein „Anything goes“? Wohl kaum. Auch der Versuch, die „kritische Rekonstruktion“ mit Formen zu gestalten, die den unterschiedlichen Haustypen gemäß sind.
Die 127 Wohnungen und die ebenso große Fläche für Büros, Läden, Kultureinrichtungen und Gewerbe, die die Wohnungsbaugesellschaft Mitte und die MM Management GmbH gemeinsam bauen, haben natürlich nichts mehr vom literarischen Charme (und der einstigen Realität) des Verstecks, der günstigen Wohnung für Arme und Familien, des billigen Lokals oder Tingeltangels sowie des Handwerkerschuppens. Es werden saubere Häuser und Räume für die Besserverdienenden, ist doch geplant, die Bauten freifinanziert oder im sogenannten zweiten Förderweg zu errichten. Klassische Sozialwohnungen und billige Arbeitsorte haben im Schatten der Regierungs- und Museumsinsel keine Chance. Die Neukonzeption weist auf einen Gebrauch des neuen Ensembles durch Nutzer hin, die nicht wie einst Franz Biberkopf aus der Gosse kamen und dort ihr Ambiente fanden. Ob ihre weißen Westen allerdings sauberer sind, kann durchaus bezweifelt werden. Rolf Lautenschläger
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