■ Zur Diskussion um A. Schimmel und ihre Rushdie-Kritik
: Unter der Protestlawine begraben

„Was hälst du eigentlich von dieser fürchterlichen Frau Schimmel?“ fragte mich kürzlich ein Freund. Es sei doch unglaublich, daß eine zynische Apologetin des Ayatollah Chomeini ausgerechnet den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten solle. Ja, das sei unglaublich, antwortete ich – wenn all das stimmen würde, was in den letzten Wochen über die Dame gesagt worden ist.

Was war da nicht alles zu lesen! Sie habe „Verständnis für die Verfolgung des Schriftstellers Salman Rushdie geäußert“. Sie arbeite den Fundamentalisten „gerne gefühlsmäßig in die Hände“ und „findet einen Roman schlimmer als die Morddrohung“. Sie schreibe „zum Teil recht krude Bücher“, in denen sie „konsequent einer unkritischen Darstellung des Islam frönt“. Alles taz-Zitate, das letzte vom 8. Juni.

LeserInnen anderer Zeitungen mußte die designierte Friedenspreisträgerin noch ruchloser vorkommen. Die „orthodox islamische Wissenschaftlerin, die sich im Iran und in Pakistan herumreichen und feiern läßt“ (Günter Wallraff am 12. Mai im Kölner Stadtanzeiger) werbe nicht nur „mit weinenden Muslimen um Verständnis“ für die Fatwa Chomeinis (Die Zeit, 11. Mai); in ihren Augen sei das Rechtsgutachten sogar „religiös gerechtfertigt“, wie Sabine Kebir am 2. Juni im Freitag bekanntgab. Eine Woche zuvor hatte sie in der gleichen Zeitung das Niveau der Debatte auf den Tiefststand geholt, als sie in Annemarie Schimmel das Pendant zu Peter Scholl- Latouor fand; bei gleicher intellektueller Ausgangslage schreibe dieser gegen und jene für den Islam. So einfach sieht das aus.

Weil es so einfach nicht mehr ist, weil die Sachlage kompliziert, die Urteile und Behauptungen so willkürlich geworden sind in den vergangenen Wochen, scheint es angebracht, noch einmal von vorn zu beginnen. Was hat Frau Schimmel, die zwar ein sehr inniges Verhältnis zur Mystik hat, aber nicht zum Islam übergetreten ist, wirklich zum Fall Rushdie gesagt? Zunächst hat sie sich unmittelbar nach der Bekanntgabe der Preisverleihung in einem „Tagesthemen“-Interview mißverständlich geäußert. Mißverständlich war wohlgemerkt nicht der Inhalt der Äußerungen. Frau Schimmel hat kein Verständnis für ein Todesurteil gezeigt, mit keiner Silbe. Im Gegenteil hat sie sich davon ausdrücklich distanziert. Ihre Bemerkung, daß Rushdie die Gefühle vieler Muslime verletzt hat, ist eine Tatsache und wird von dem britischen Schriftsteller auch gar nicht bestritten. Mißverständlich waren die Formulierungen und das Gewicht, das sie einzelnen Feststellungen gab. Man konnte in der Tat den Eindruck gewinnen, daß sie eine Todesdrohung relativiere. Aber reicht ein wissenschaftliches Lebenswerk allerhöchsten Ranges nicht aus, um ihr – vor allen Verurteilungen – die Gelegenheit zu gewähren, den Eindruck, den ein zweiminütiger Fernsehauftritt hinterlassen hat, zu korrigieren?

Offenbar nicht. Der Mechanismus, der unmittelbar nach dem „Tagesthemen“-Interview einsetzte, löste eine Lawine der Empörung aus; unter ihr begraben die 73jährige Preisträgerin. Wie aus Vermutungen Behauptungen, aus Unterstellungen Tatsachen gebastelt wurden, ließe sich anhand einzelner Beiträge detailliert nachweisen. Da wundert es nicht, daß Die Zeit zwar die Behauptung zweier Aachener Bürger wiedergibt, Frau Schimmel habe am 22. Juni 1989 im kleinen Kreis erklärt, „Rushdie gehöre umgebracht“, jedoch geflissentlich das empörte Dementi der Orientalistin, sie habe niemals eine solche Äußerung getan, verschweigt. Der Fall Rushdie scheint die Maßstäbe einer fairen Berichterstattung bisweilen außer Kraft zu setzen. Einer iranischen Regierung, welche die Verantwortung für systematische Folter und auch für die Verfolgung und Ermordung zahlreicher einheimischer Schriftsteller trägt, wurde jahrelang zu verstehen gegeben, daß das Haupthindernis vor normalen Beziehungen mit dem Westen die Verfolgung Rushdies ist. Wie viele ermordete iranische Künstler wiegen einen bedrohten Salman Rushdie auf? 20? 100? 1.000? Die iranische Regierung kann noch so viele Menschen auf dem Gewissen haben – sollte sie tatsächlich, wie sich jetzt andeutet, offiziell und in aller Form erklären, daß sie den britischen Autor nicht länger verfolge, kann der Westen kaum umhin, die Beziehungen vollends zu normalisieren. Schließlich ginge der Mullah-Staat damit auf die Bedingungen ein, welche die EU gestellt hat. Ein folgenschweres Dilemma würde sich offenbaren: daß man die Beschäftigung mit Iran, der Islamischen Republik und dem Islam in den letzten Jahren tendenziell auf den Fall Salman Rushdie reduziert hat.

Mittlerweile hat Frau Schimmel in vielen Interviews klargestellt, daß sie die Fatwa Chomeinis „ohne Wenn und Aber als ein eindeutiges Unrecht“ verurteile. Allerdings hat sie auch darauf hingewiesen, daß sie „Die Satanischen Verse“ nicht besonders mag, und Gründe für die Empörung vieler Muslime genannt. Die wenigsten muslimischen Intellektuellen, Theologen und Laien, die Partei für Salman Rushdie ergriffen haben, zeigten besondere Sympathie für sein Buch. Nur vertraten sie die Auffassung, daß ein schlechtes Buch kein Grund sein kann, den Autor umzubringen. Genau das ist der Standpunkt Annemarie Schimmels. Ihr, die sich oft genug für kritische Geister der islamischen Welt eingesetzt hat, vorzuwerfen, sie falle damit den progressiven muslimischen Kräften in den Rücken, ist absurd.

Es gibt sicher Äußerungen Frau Schimmels, die zu diskutieren wären. Nachdenklich macht mich ihr Eingeständnis, daß sie ein „absolut unpolitischer Mensch“ sei. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist nun einmal ein politischer Preis, und es wäre grundsätzlich zu klären, ob eine Gelehrte, die sich selbst als unpolitisch bezeichnet, für eine solche Ehrung geeignet ist. Ich kann verstehen, wenn manche zu einer negativen Antwort neigen. Ich teile sie nicht, weil die Bücher Frau Schimmels bei aller Ferne von tagesaktuellen Ereignissen durchaus politisch sind. Ihre Beschäftigung mit den Sufis, den muslimischen Mystikern hat zahlreichen Menschen den Blick geöffnet für einen Islam, der von den vielbeschworenen humanistischen Idealen der abendländischen Zivilisation weitaus nähersteht, als es hierzulande gemeinhin für möglich gehalten wird. Dabei ist der Sufismus alles andere als eine Randerscheinung, sondern ist als Lebenshaltung und Weltsicht ungleich prägender und signifikanter für Geschichte und Gegenwart der islamischen Welt als etwa fundamentalistische Strömungen. Als der verinnerlichte Islam war und ist er – noch lange vor westlich-säkularistischen Einflüssen – das wirksamste Mittel gegen den Kleingeist und die Buchstabentreue der islamischen Orthodoxie. Navid Kermani

Der Autor ist Islamwissenschaftler und lebt in Köln