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Unschuld und Sühne

„HIStory“: Wie Michael Jackson mit seiner neuen Platte Gericht hält – und die Teenager dieser Welt zu Geschworenen nimmt  ■ Von Thomas Groß

Michael Jackson lebt nicht mehr hier, er ist jetzt eine Statue, aufgestellt auf der zentralen Plaza im Traumreich der Kinder. Flakscheinwerfer strahlen ihn an, Granaten explodieren an seiner Brust, gefährlich nah säbeln Hubschrauberrotoren zwischen seinen Beinen herum. Nacktes Entsetzen malt sich für Sekunden auf Kindergesichter. Doch Michael steht stumm, ein steinerner King Kong im Patronengurt eines Operettenrebellen – oder ist es ein Keuschheitsgürtel?

Reichsparteitagsästhetik hat Diane Sawyer vom ABC Channel am vergangenen Donnerstag dem Trailer zum jüngsten Michael- Jackson-Album vorgeworfen, und Jackson selbst, der zusammen mit Lisa Marie eines seiner ganz seltenen TV-Interviews gab, hat das natürlich nicht verstanden. „Dieser Film ist auf keinen Fall nach Leni Riefenstahls ,Triumph des Willens‘ modelliert“, gab er Frau Sawyer sehr ernsthaft zu bedenken, „er hat nichts zu tun mit Kommunismus oder Faschismus – es ist Liebe, es ist Kunst.“ Lisa Marie Presley, Elvis' Tochter und seit Juli vorigen Jahres Jacksons Frau, pflichtete bei: „He resculpted himself.“

Das wenigstens ist kaum zu bestreiten. Album, Trailer, TV-Präsentation, Videos und Begleitkampagnen sind Teil eines High- Budget-Dramas, das die angeschlagene Persona des 37jährigen „King of Pop“ neu modellieren soll. Zehn Millionen Dollar soll die Doppel-CD „HIStory“ gekostet haben, dreißig Millionen hat Sony für die Promotion veranschlagt. Zur Anheizung des medialen Begehrens wurde der übliche Dreistufenplan eingehalten: künstliche Verknappung des Produkts in der Vorphase, Pre-Listening-Sessions für die Presse, Konzentration der jugendlichen Kaufkraft auf den offiziellen Erscheinungstermin am vergangenen Freitag. 500 Millionen sollen über den Verkauf wieder reinkommen, doch mit dem Geld geht es diesmal zugleich um mehr. Die multimediale Inszenierung reagiert auf das, was Jackson selbst eine Inszenierung, ein Komplott nennt: die Vorwürfe, er habe Sex mit dem minderjährigen Jordan Chandler gehabt. Ein Skandal, der die amerikanische Psyche beschäftigte wie sonst nur Nancy Kerrigans Knie, John Bobbitts Penis oder O.J. Simpsons Minenspiel vor Gericht.

Mit Simpson verbindet Jackson nicht nur die Tatsache, daß beide als „Schwarze“ zum rassenübergreifenden Massenidol werden konnten – in den USA immer noch die absolute Seltenheit. „I Want To Tell You“ hieß O.J.s als Buch erschienene Verteidigungsschrift, M.J. zieht den Joker „HIStory. Past, Present And Future, Book I“, semantisch gesehen ein recht durchsichtiges Manöver von Albumtitel, biblisch in seinem Verkündigergestus, kindlich in seinem geballten Anspruch, dazu noch auf präfeministische Weise naiv (Hohn ist IHM dafür sicher). Doch Eigentore bei den Intellektuellen waren Jacksons Problem noch nie. „HIStory“, auch das hat Jackson mit Simpson gemeinsam, will auf das Pathos der Zeugenschaft in eigener Sache hinaus, wie es die großen Gerichtsspiele in den USA entfalten. Der selbstentfachte Rummel um das Album ist ein Nachspiel in eigener Sache, eine symbolische Verschiebung und Umkehr des Prozesses gegen Jackson, der nicht stattfand, weil er im Januar 1994 mit einem außergerichtlichen Vergleich endete.

Zwei wesentliche Grundsätze kennzeichnen das amerikanische Gerichtssystem: Zum einen wird grundsätzlich öffentlich verhandelt – die Schnittstelle, an der Court- TV ansetzt (im Prinzip nur eine mediale Vergrößerung des Publikums). Zum anderen wird über Schuld und Unschuld nicht vom Richter befunden, sondern von den Geschworenen, die als „Männer und Frauen von der Straße“ auf ideale Weise das amerikanische Volk verkörpern. Hier hat der amerikanische Gerichtsfilm mit seiner Breitwanddramatisierung öffentlicher Überzeugungsprozesse seinen Ursprung, aber auch eine Form der Aufbereitung von Sachverhalten, die mehr mit Imagearbeit zu tun hat als mit der (Re-)Konstruktion von Wahrheit. Entscheidend sind bei prominenten Prozessen nicht so sehr Indizien, sondern die Bereitschaft der peers, etwas zu glauben, was ein inneres System von Wünschen und Hemmungen als Kompromiß zwischen öffentlicher Bedeutung des Angeklagten, Tatvermutung und Beweislast ermittelt.

Im Falle Jacksons sind die Fakten längst unter einer Schicht von Gerüchten, inflationären Gutachten, Enthüllungen und Gegenenthüllungen verschwunden. Es wimmelt von ehemaligen Leibwächtern und Hausangestellten, die Jacksons Hand umso weiter in Chandlers Hose sahen, je mehr Geld ihnen für ihre Aussage geboten wurde. „Sie fürchteten, die Hispaños könnten Jackson seinen Reichtum neiden, die Schwarzen wären noch immer verbittert über sein Bemühen, ein Weißer zu sein, und für die Weißen würde kein Weg an der Mißbrauchsgeschichte vorbeiführen“, benennt einer der Anwälte als Ursache für die außergerichtliche Lösung – eine Zwangslage zwischen den Ethnien, die natürlich Komplottvorstellungen entgegenarbeitet. „HIStory“ gegen Hystery? Vielleicht wird Oliver Stone irgendwann mal einen Film darüber drehen. Vorerst aber wird kein noch so investigativer Journalist an die ursprünglichen Fakten herankommen, die durch stille Abmachungen, bindende Verträge und nicht zuletzt eine Abfindung in Höhe von 25 Millionen Dollar (so heißt es) an den Vater von Jordan Chandler gesichert sind.

Produktion der Fiktionen aber auch auf Jacksonscher Seite: Seit dem karrieregefährdenden Backlash hat er nicht nur Schweigegelder gezahlt, er ist auch eine Heirat eingegangen, an die kein Mensch glaubt. Und jetzt hat er eine ursprünglich als Greatest-Hits- Rückblick geplante Platte zum Megaphon einer Art Pop-Verteidigung ausgebaut, die kurzerhand die Teenager der Welt zu Geschworenen nimmt. Don't believe the hype, sagt ein Album wie „HIStory“, believe this hype.

Schon das Presseheft ist, wie auch das 52seitige CD- Booklet, eine Polonaise der Leumundszeugen. Vier Präsidenten haben Jackson empfangen. Elizabeth Taylor, Quincey Jones, Stevie Wonder, Dave Pirner, Andrew Roachford, sogar die schon tote Jacqueline Onassis-Kennedy werden mit Pro- Michael-Statements herbeizitiert. Steven Spielberg findet goldene Worte: „Michael brings so much to so many.“ Es folgt eine Auflistung aller Preise, die Jackson je erhalten hat, vom ersten Grammy in den frühen Siebzigern über den „Silver Otto Award“ von Bravo Germany bis hin zur Ehrung als „Good Scout Humanitarian“ durch die „Boy Scouts of America“.

Die Musik ist bei all dem bloß noch eine unterstreichende Maßnahme: 15 der 30 Titel sind ohnehin altes Material und nur digitally remastered (das allerdings auf 103 Spuren!), der Rest bietet die handelsübliche Jackson-Mischung, gehärtet allenfalls durch den Einsatz von Boller-Beats aus der letzten Dekade und engagierterem, fauchenden Gesang. „Scream“ etwa, der Opener im Duett mit Schwester Janet, ist Prince von vor zehn Jahren, interessant erst in Kombination mit dem Video, in dem Janet und Michael in einem weißen Raumschiff schreiend durchs Weltall rasen und dabei eine Menge Gitarren und Porzellan zerschlagen – großes Katharsismodell. Wer aufpaßt, kann tatsächlich ein „Stop fucking with me“ heraushören (auf MTV übrigens getilgt). „Tabloid Junkie“ versteht sich als öffentliche „Aufarbeitung“ von Michaels Tablettensucht, und „D.S.“ rechnet mit dem richterlichen Ermittler in Sachen Mißbrauch ab: Unschuld und Sühne, Umkehr des Verfahrens, Michael jetzt als Zeuge der Anklage: „Dom Sheldon is a cold man“ – hatte er nicht sogar mal was mit dem Ku Klux Klan?

Mit Sicherheit hat eine Riege von Anwälten diese als Frage gehaltene Unterstellung auf ihre Justitiabilität hin untersucht. Vielleicht haben sie Michael geraten, das luftige Weltrettungsstück „Earth Song“ als Puffer vorauszuschicken, oder die Ballade „Childhood“ im gemessenen Abstand hinterher, ein Tearjerker, der Michaels verlorene Kindheit beklagt – und auch wieder ein Plädoyer ist: „Before you judge me, try hard to love me/ Look within your heart then ask/ Have you seen my childhood?“

Ist das nicht doch ein indirektes Schuldgeständnis? Ganz wird Jackson die Rückverwandlung in eine singende Junggesellenmaschine nicht gelingen, und das gibt dem Shaping und Sculpting an der öffentlichen Figur, den zahlreichen Verständnishilfen, Selbstdeutungen, Winken mit Zaunpfählen und dem Tränendrüsendrücken in eigener Sache etwas Penetrantes. Die Kritiker, die Jackson als Altlast aus den achtziger Jahren mit sich herumschleppen, werden „HIStory“ nicht mögen, es bringt sie zu sehr auf die (naheliegende) Idee, Erfüllungsgehilfen einer bloßen Imagekampagne zu sein.

Für Kritiker ist das Album aber auch nicht gemacht. Wie schuldig oder unschuldig Michael Jackson ist, wird plebiszitär entschieden werden – an den Kassen.

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