: Die bosnische Offensive stockt
Am Wochenende abflauende Kampftätigkeit registriert / Bosnier erzielen wichtige Positionsgewinne, aber keinen Durchbruch ■ Aus Vitez Erich Rathfelder
Die bosnische Offensive zur Befreiung Sarajevos scheint am Wochenende zum Halten gekommen zu sein. Nach anfänglichen Geländegewinnen an drei Frontabschnitten und der Unterbrechung zweier für die serbische Seite wichtigen Straßenverbindungen gehen zwar die Artillerieduelle weiter, ein entscheidender Durchbruch scheint bisher nicht gelungen zu sein.
Die Unsicherheit über die wirkliche Lage an den Fronten um Sarajevo hängt mit der skandalösen Pressepolitik der bosnisch-muslimischen Seite zusammen. Es werden weder Pressekonferenzen abgehalten noch eigene Informationsbulletins erstellt. Nach wie vor ist es Journalisten, UNO-Mitarbeitern und militärischen Beobachtern nicht erlaubt, in die Kampfgebiete vorzudringen. So jagen sich die Gerüchte. Dies kann nicht einmal im Interesse der bosnischen Seite liegen.
Gesicherte Erkenntnis ist immerhin, daß es der bosnischen Armee vom Norden her gelungen ist, zwischen den Städten Olovo und Breza in das serbisch besetzte Gebiet einzudringen. Es soll ihr nach UN-Quellen und Befragungen bosnischer Soldaten gelungen sein, die wichtige Straßenverbindung zwischen Olovo und Svrake, einem von den Serben besetzten, Sarajevo vorgelagerten Ort einzunehmen. Die serbische Artillerie, die vor allem in Svrake konzentriert ist, antwortet mit hektischem Feuer. In der Nacht zu Sonntag wurden von UNO-Beobachtern allein in dieser Region 2.200 Artilleriegranaten gezählt. Sarajevo wird beschossen, auch Visoko und Vares.
Bei einem serbischen Granatenangriff auf einen Vorort der bosnischen Hauptstadt wurden gestern acht Menschen getötet und 15 weitere verletzt. Die Granate schlug in Dobrinja ganz in der Nähe von einer Menschenmenge ein, die die relative Ruhe der vergangenen Stunden nutzen wollte, um Wasser zu holen. Nach dem Angriff wurde in Sarajevo der Alarmzustand ausgerufen. Gleiches gilt für die Serben-Hochburg Pale, nachdem mehrere Granaten gestern in der Umgebung der Stadt niedergingen.
Im Westen Sarajevos steht die serbisch besetzte Stadt Hadzici weiter unter bosnischem Druck. Durch Hadzici führt die wichtige Straße, die Sarajevo mit der Küste verbindet. Zwischen Hadzici und Sarajevo liegt die Serben-Hochburg Ilidza. Gerüchte, Ilidza sei schon eingeschlossen, konnten bisher von keiner Quelle bestätigt werden. Auch am südlich gelegen Berg Igman soll es Positionsgewinne der Bosnier gegeben haben.
Spektakulärer als diese Aktionen dort scheint jedoch das Vorrücken der bosnischen Truppen aus der Stadt Sarajevo heraus zu sein. Von den östlichen Stadtteilen aus ist es gelungen, die auf den Höhenzügen südlich der Stadt liegende Straßenverbindung zwischen der serbischen Garnisonsstadt Lukavica und der „Regierungszentrale“ Pale zu unterbrechen. Da auch die weiter südlich gelegene Route über Trnovo vom Igman aus gefährdet ist, könnte dieser Umstand zu erheblichen Behinderungen für den militärischen Widerstand der Serben südlich Sarajevo führen. Auch die Zugänge zu dem serbisch besetzten Stadtteil Sarajevos Grbavica sind damit erschwert.
Trotz des Befehls von Alija Izetbegović' vom Donnerstag, erneuert am Samstag, die eingeschlossene Stadt Sarajevo zu befreien, sind unter militärischen Beobachtern Zweifel aufgetaucht, ob dies tatsächlich das vordringliche Ziel der bosnischen Offensive ist. Manche dieser Analytiker gehen davon aus, daß es den Bosniern vor allem darauf ankommt, die strategischen Positionen um Sarajevo zu verbessern. Erste Schritte dazu seien getan. Erst nachdem die neugewonnenen Positionen gesichert seien, könnte die Offensive fortgesetzt werden. Unterdessen könnte zudem – sozusagen im Windschatten der Kämpfe um Sarajevo – der Vormarsch im Gebiet des Treskavica-Gebirges südlich Sarajevos in Richtung auf die Enklave Goražde fortgesetzt werden. Die bosnischen Truppen sollen nur noch 30 Kilometer von der Enklave entfernt sein.
Gelänge dies nämlich den bosnischen Truppen, wäre auch politisch ein wichtiges Ziel erreicht. Dann wären die vom UN-Unterhändler Yasushi Akashi und dem französischen Außenminister Juppé gemachten Vorschläge, die ostbosnischen Enklaven Srebenica, Zepa und Goražde zu demilitarisieren, das heißt der serbischen Kontrolle zu überlassen, hinfällig geworden. Zudem wäre dann sogar die Befreiung von Zepa und Srebrenica im Bereich des Möglichen. Da weiterhin die kroatisch- bosnischen Truppen von Livno aus in Richtung der westbosnischen Enklave Bihač drängen, wäre das Problem der Enklaven dann mit militärischen Mitteln gelöst. Einer anschließenden Verhandlungsrunde könnte von bosnischer Seite gelassen entgegengesehen werden.
Doch soweit ist es nicht. Andere militärische Beobachter schätzen die Kampfkraft der bosnischen Armee wesentlich schwächer ein. Sie gehen davon aus, daß die Kräfte der bosnischen Armee nicht einmal in Koalition mit der kroatisch- bosnischen HVO ausreichten, Sarajevo oder die Enklaven zu befreien. Deswegen erwarten sie eine bald wieder einsetzende Verhandlungsrunde über die Versorgungswege nach Sarajevo.
Da sämtliche Verbindungswege für den zivilen Verkehr in die Stadt wegen der Kämpfe unterbrochen sind – nicht einmal UNO-Mitarbeitern oder den Beschäftigten der Botschaften gelingt es, in oder aus der Stadt zu gelangen – und auch schon seit elf Wochen der Flughafen nicht mehr benutzt werden kann, hat sich die Versorgungslage dramatisch zugespitzt. Mehr als 14 Tage sei der jetzige Zustand wohl nicht aufrechtzuerhalten, schätzen britische Militärbeobachter in Vitez ein.
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