: Rebellen lassen 600 Geiseln frei
■ Tschetschenische Separatisten machen sich mit 150 Gefangenen auf den Weg in die Heimat
Moskau/Budjonnowsk (AFP/rtr/taz) – Sechs Tage nach Beginn der Geiselnahme im südrussischen Budjonnowsk haben die tschetschenischen Rebellen die meisten Gefangenen freigelassen. Gestern gegen 15 Uhr wurden rund 600 Männer und Frauen aus dem Krankenhaus der Stadt gebracht, das russische Soldaten zuvor auf versteckte Minen überprüft hatten. Eine Stunde davor hatten sich die 130 Geiselnehmer in sieben Bussen auf den Weg zur tschetschenischen Grenze gemacht. Begleitet wurden sie von 150 Geiseln sowie 13 russischen Journalisten und Parlamentsabgeordneten, die sich freiwillig zur Verfügung gestellt hatten. Zu dem Konvoi gehörten außerdem sechs Polizeiwagen und ein Kühlwagen, in dem die Leichen der 16 getöteten Rebellen nach Tschetschenien gebracht werden. Ziel der Gruppe war der Heimatort des Rebellenführers Schamil Bassajew, Wedeno.
Unter den freigelassenen Geiseln waren unzählige Kranke und Verletzte. Viele mußten getragen, andere gestützt werden. Sie hatten tagelang eng nebeneinander gekauert auf dem Fußboden des Krankenhauses gelegen. Vor allem Frauen waren von den Rebellen als lebende Schutzschilde an die Fenster gestellt worden, als die russischen Sondertruppen am Samstag versuchten, das Spital zu stürmen.
Kurz vor dem Verlassen des Krankenhauses sagte Bassajew in einem Telefongespräch mit einem Journalisten, er sei sich darüber im klaren, daß er sich mit der Fahrt nach Wedeno großer Gefahr aussetze: „Aber mein Leben bedeutet mir wenig, verglichen mit dem Kampf um die Freiheit für mein Volk.“ Sein Mißtrauen schien begründet: Unmittelbar nach der Abfahrt der Rebellen aus Budjonnowsk sagte der russische Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin, es werde keine Gnade für die tschetschenischen Geiselnehmer geben, sobald sie ihren Zielort erreicht hätten. Aus Angst vor Terroranschlägen von Tschetschenen wurden in Moskau die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verschärft. Rund um das Regierungsviertel fuhren Panzer auf.
Die telefonischen Verhandlungen, die Rußlands Ministerpräsident Tschernomyrdin mit Bassajew über die Geiselfreilassung geführt hatte, waren Montag morgen für mehrere Stunden ins Stocken geraten. Die russische Regierung hatte die Forderungen der Partisanen zunächst abgelehnt, 150 Geiseln zum persönlichen Schutz während ihres Abzuges mitzunehmen. Wie bereits in den vergangenen Tagen zeigte das russische Fernsehen Aufnahmen von den Telefongesprächen zwischen dem Premier und dem Rebellenführer. Die beiden hatten sich am Sonntag auf ein Dokument geeinigt, das die sofortige Verkündung eines Waffenstillstands für Tschetschenien und Friedensverhandlungen vorsah. Eine positive Stellungnahme zu dieser Vereinbarung kam am Montag vormittag vom russischen Präsidenten. Boris Jelzin ließ mitteilen, daß das Leben der Geiseln um jeden Preis geschützt werden müsse.
Nach Moskauer Angaben wurde am Montag in Tschetschenien nicht mehr geschossen. Tschetschenische Rebellen sollen jedoch einen russischen Kontrollposten überfallen und vier Soldaten getötet haben. In Grosny scheiterten am Nachmittag die von den Geiselnehmern erzwungenen Friedensverhandlungen. Wie die Vertretung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mitteilte, konnten sich beide Seiten nicht über die russische Forderung verständigen, „sofort“ alle Geiseln freizulassen.
Wie bereits bei den im Mai abgebrochenen Verhandlungen ist weiterhin völlig unklar, welches Angebot Moskau den Tschetschenen für die Regelung des verfassungsrechtlichen Status von Tschetschenien machen wird. Ministerpräsident Tschernomyrdin sagte hierzu in Moskau: „Wir werden nichts tun, was der Verfassung [der Russischen Föderation, d. Red.] widerspricht. Da gibt es kein Erbarmen.“ Seiten 8, 10 und 11
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