: Stoppt Shell Lomu?
Das heutige Rugby-WM-Endspiel gegen Neuseeland bewegt ganz Südafrika existentiell ■ Aus Johannesburg Kordula Doerfler
Szene 1: François Pienaar, Kapitän der südafrikanischen Rugby-Nationalmannschaft, sitzt mit einer schönen Frau an einem Restauranttisch. Jene benimmt sich auffällig. Mit beiden Händen hält sie ein T-Bone-Steak fest und nagt an ihm. Der Genuß ist so groß, daß sie anfängt, auf ihrem Stuhl hin- und herzurutschen und laut zu stöhnen. Als es zum Orgasmus kommt, dreht sich das ganze Lokal nach ihr um. François Pienaar lächelt verlegen. Eine ältere Frau am Nebentisch gibt ihre Bestellung auf: „Ich möchte das gleiche wie sie.“ (kinoadaptierter Werbespot einer südafrikanischen Steakhaus-Kette, der seit Wochen mehrmals täglich ausgestrahlt wird.)
Szene 2: 16. Juni 1995. Im „neuen Südafrika“ ist das ein offizieller Feiertag, an dem des Schüleraufstandes 1976 in Soweto gedacht wird. Im ganzen Land finden Gedenkveranstaltungen mit prominenten Politikern statt. Präsident Nelson Mandela spricht zu schwarzen Jugendlichen in der Krisenregion Kwa Zulu/Natal. Auf dem Kopf trägt er eine grüne Baseballmütze mit dem Emblem der Rugby-Mannschaft, einem Springbock. „Seht ihr die Mütze, die ich auf dem Kopf habe?“ fragt er. „Diese Mütze ehrt unsere Jungs.“ Mandela fordert die Jugendlichen auf, die „Springboks“ zu unterstützen, die „unseresgleichen“ seien. Der Präsident mit der grünen Mütze wandert auf die Titelseiten der Zeitungen.
Szene 3: Besagte „Springboks“ posieren Anfang dieser Woche bei einem Fototermin. Sie halten ein großes Plakat, das je zwei schwarze Männer und Frauen zeigt, die über dem Fundament der neuen südafrikanischen Flagge ein Haus bauen. „Masakhane“ steht in riesigen Lettern darüber: „Laßt uns eine Nation bauen.“ Die (weiße) Rugby-Mannschaft unterstützt offiziell ein Programm, das vom Afrikanischen Nationalkongreß (ANC), dem vormaligen Erzfeind, gestartet wurde – um damit für die „Unterstützung seitens der gesamten Nation“ während der vergangenen Wochen zu danken.
Seit nahezu vier Wochen bewegt Rugby Südafrika. Mit jedem gewonnenen Spiel, das die „Springboks“ dem Finale näher bringt, steigt die Anteilnahme. Auf gleichbleibend hohem Niveau ist sie, seit vergangenes Wochenende mit dem Sieg über Frankreich das Finale erreicht wurde. Wenn heute nachmittag im Ellis-Park-Stadion in Johannesburg das Endspiel gegen Neuseeland stattfindet, werden die Straßen wieder leer sein, die Häuser von den Aufschreien der Fans vor den Fernsehern womöglich in ihren Grundfesten erzittern.
Vor allem für das weiße Südafrika ist jetzt schon ein Traum wahr geworden: „Unsere Jungs“ und das ganze Land als Veranstalter haben unter Beweis gestellt, daß man nach jahrzehntelanger Isolation während der Apartheid wieder jemand ist in der internationalen Staatengemeinschaft – und daß man auch mit mittelmäßigem Rugby ziemlich weit kommen kann. Die südafrikanische Mannschaft gilt in dem ohnehin nicht gerade filigran daherkommenden Spiel als aggressiv und bullig, aber sie hat es trotz einer antiquierten Spielweise geschafft, raffinierter spielende Teams zu schlagen.
Daß die „Springboks“ Weltmeister werden, ist nahezu ausgeschlossen. Doch schon die Tatsache, daß sie überhaupt so weit gekommen sind, übersteigt die kühnsten Träume Südafrikas. Wer wird da noch kleinlich sein und daran erinnern, daß mit 20.000 Besuchern aus Übersee weit weniger Fans gekommen sind als erwartet? Die Weltmeisterschaft, sagt Peter Skosana, Sportminister für die Provinz Gauteng rund um Johannesburg, habe geholfen, „unsere junge Demokratie zu nähren“. Und: „Wir sind die stolzeste Nation der Welt.“ Dabei wird Rugby in der stolzesten Nation immer noch fast ausschließlich von Weißen gespielt. Unter Schwarzen hingegen ist Fußball der am meisten verbreitete Sport. Allerdings macht sich seit Beginn der Weltmeisterschaft ein rapider Wandel bemerkbar. Für die meisten Schwarzen sind die Eintrittskarten unerschwinglich teuer, aber in den Townships werden die Spiele von Hunderttausenden vor den Fernsehern verfolgt – obwohl die Nationalmannschaft auch heute noch lilienweiß glänzt. Einzige Ausnahme: Chester Williams, der linke Flügelspieler, anfangs wegen einer Verletzung nicht auf dem Feld, ist zum Star des Teams avanciert.
Vor allem ein Mann aber macht den Südafrikanern großes Kopfzerbrechen: Jonah Lomu (20), dunkelhäutiger Vorzeigespieler der wegen der Farbe ihrer Trikots „All Blacks“ gerufenen Neuseeländer. In den Zeitungen überbieten sich die Kommentatoren in angstvollen Superlativen für den derzeit besten Rugby-Spieler der Welt: ein „Titan“ sei er, ein „Göttlicher“, der Chancen hätte, in jedem Leichtathletik-Zehnkampf unter die Weltbesten zu kommen. Wie, so lautet die bange Frage, ist dieser Mann im Endspiel zu stoppen? Die schlichte Antwort: gar nicht. Dennoch hagelt es aus allen Ecken Vorschläge. Shell Südafrika etwa hat sich bei den Neuseeländern alle Sympathien verscherzt mit dem Angebot, bei jedem erfolgreichen Versuch, Lomu im Endspiel zu stoppen, 5.000 Rand (etwa 2.000 Mark) an das südafrikanische Rugby zu spenden.
Selbst das Parlament in Kapstadt beschäftigt sich mit dem neuseeländischen Rugby-Wunder. Umweltminister Dawie de Villers, langjähriger Kapitän der „Springboks“, hat die Patentlösung parat. Während einer Rede über den Schutz von Springböcken in der Natur erklärte de Villers, Lomu sei eine Bedrohung für die Springböcke und damit eine Bedrohung für die Natur. Abschnitt 31 des Gesetzes für den Schutz der Umwelt gebe ihm das Recht, jede Entwicklung zu stoppen, die dem zuwiderlaufe. Das Parlament, das mehrfach Sitzungen verschoben hat, um Rugby zu kucken, dankte mit schallendem Gelächter.
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