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Sechs Wochen „ohne jäde Obrichkeit“

Der 91jährige Kommunist und ehemalige KZ-Häftling Paul Korb aus Schwarzenberg war vor fünfzig Jahren für sechs kurze Wochen Polizeichef einer heute vergessenen deutschen Republik  ■ Aus Schwarzenberg Steve Körner

Beinahe wäre alles anders gekommen. „Verhaftet und erschossen hätten wir werden können, fehlte nicht viel“, nickt Paul Korb, „verraten waren wir ja schon.“ Doch als die Gestapo begann, den Treffpunkt der „Widerstandsgruppe Morgenlinde“ zu beobachten, eine Hütte außerhalb des sächsischen Städtchens Schwarzenberg, beschlossen Korb und seine Genossen, ihre Treffs in den Wald zu verlegen: „Wir sind als Pilzsammler losgezogen, und die haben gedacht, ihr Spitzel hätte sie belogen“, freut sich der Alte.

Paul Korn ist einsfünfundsechzig groß, und wenn er die knarrende Treppe seines Hauses hinuntersteigt, muß er auch an der niedrigen Stelle nicht den Kopf einziehen. Um alles richtig mitzukriegen, legt er den Kopf immer ein wenig schräg. Neulich ist Korb 91 geworden.

„Am 9. Mai“, erinnert sich Paul Korb, „hörten wir im Radio, daß Deutschland kapituliert hat.“ Korb, KPD-Mitglied mit der Nummer 338925 und „bei Hitler“, wie er es nennt, sechs Jahre ins KZ gesperrt, atmete auf. Schwarzenberg wartete auf die Besatzungstruppen. Paul Korb und seine Freunde, „die letzten alten Genossen“, hofften auf die Russen. Die Mehrheit der Einwohner sehnte die Amerikaner herbei.

Und dann ließ sich niemand blicken. Die Sowjetarmee rückte von Osten kommend genau bis Annaberg vor. Die Amerikaner blieben bei Aue stehen. Warum keiner die Schwarzenberger befreien wollte, „das wissen wir bis heute nicht“, meint Korb. Mißverständnisse bei den Alliierten? Oder sollte Schwarzenberg für die zurückflutende Heeresgruppe Süd freigehalten werden? „Jedenfalls war es ja nun offensichtlich so, daß die uns vergessen hatten“, brummelt der kleine Mann im weichen erzgebirgischen Idiom. In Schwarzenberg regiert weiter der Nazi- Bürgermeister, hält der Nazi- Landrat ratlos in seinem Amtssitz aus. 2.000 Quadratkilometer zwischen Schneeberg, Johanngeorgenstadt und Grünhain mit etwa 300.000 EinwohnerInnen zählte das nichtbesetzte Restreich am 10. Mai 1945. Die Lage war prekär. Lebensmittel gab es kaum, dafür um so mehr Flüchtlinge. Marodierende deutsche Truppen raubten, was ihnen unter die Finger kam.

„Uns war klar, daß wir was machen mußten“, blickt Korb zurück. Aus Männern, die wegen vermuteter Nähe zur Kommunistischen Partei für „wehrunwürdig“ befunden worden waren, aus ehemaligen KZ-Häftlingen und überzeugten Nicht-Nazis bildet sich in Korbs Wohnung der „Antifaschistische Aktionsausschuß“.

„Wir mußten die Nazis wegrasieren ...

„Am selben Abend sind wir mit einer Handvoll bewaffneter Arbeiter in Rathaus und Post eingerückt“, beschreibt Korb. Bürgermeister Ernst Rietzsch, im Büro überrascht, bekommt ein knappes „Raus!“ zugeraunzt. Die faschistische „Bürgerwehr“ wird entwaffnet. Alles in allem dauert die Revolution von Schwarzenberg anderthalb Stunden. „Um 23 Uhr hatten wir die Stadt in der Hand“, ist Korb, der den Handstreich organisierte, immer noch stolz. Den Bürgermeister sperren sie im Schloßturm ein. Arbeiter patrouillierten durch die Straßen. Zum Innenminister wird Paul Korb am nächsten Morgen gegen sieben. Da tagt der Aktionsausschuß. Der Sozialdemokrat Willy Irmisch macht den neuen Bürgermeister, weil er vor 1933 mal im Stadtrat war. Die Kommunistin Helene Scheffler übernimmt das Ressort Ernährung. Korb schließlich, „vor Hitler lange im Parteiselbstschutz der KP, aber eigentlich recht ahnungslos“, wird Polizeichef. Es war eben niemand anderes da.

„Wir mußten die Nazis wegrasieren und den Leuten was zu beißen geben – das war das wichtigste.“ Keinen Gedanken hätten die drei Kommunisten und die beiden Sozialdemokraten an der Spitze der Stadt damals an eine „Verfassung oder solchen Quatsch“ verschwendet. Das kam erst später, als Schwarzenberg längst Teil der DDR war. Da murrten die alten Kämpfer gelegentlich, weil man sie zwar Vorträge in Schulen, Ferienheimen und vor Arbeitskollektiven halten ließ, sonst aber nicht viel die Rede sein sollte von der „unbesetzten Zone“. Bloß eine winzige Fußnote in der achtbändigen Geschichte der Arbeiterbewegung billigte die DDR-Geschichtsschreibung den Schwarzenbergern zu. Der Korb-Paul schnieft beleidigt. „Irmisch-Willy hat dann mal zu mir gesagt“, grübelt er, „du, Paul, dein Ulbricht ist sauer, weil wir vor ihm und ohne eure Russen angefangen haben.“ Da saßen sie beim Bier, die alten Kämpfer vom Aktionsausschuß, und erzählten sich die alten Geschichten, die man in Berlin nicht so bedeutend fand. Damals hat Korb abgewunken. Heute meint er, es könne schon was dran sein: „Eine Führung, die das Volk führen will, aber sich nicht traut, unter dem Volk zu leben, kann schon auf idiotische Gedanken kommen.“

Korb ist allerdings trotzdem noch Kommunist. „Nu ja, das bin ich unterm Kaiser gewesen und in der Weimarer Zeit, unter Hitler und beim Honecker.“ Heute macht er bei den PDS-Senioren mit, hat einen ganzen Schrank voller Bücher über die sechs Wochen nach Kriegsende, dazu Hefter mit Zeitungsausschnitten und verblichene Originaldokumente. Die kurze Zeit der Schwarzenberger Selbstverwaltung, die Korb heute abwechselnd als „beispielgebend für ganz Deutschland“ und „gar nicht so wichtig“ ausgibt, haben den knorrigen kleinen Mann nie mehr losgelassen.

Für Johannes Arnolds Buch „Aufstand der Totgesagten“, das Ende der 60er in und um Schwarzenberg nach wenigen Tagen ausverkauft war, sind sie seinerzeit zur viert im Trabi bis Rostock gefahren. Auch „Die ersten Schritte“ von Werner Groß, der Korb den Namen „Raubold“ verpaßte, sei ganz gut gelungen, meint der Zeitzeuge. Nur auf Stefan Heym, der Anfang der 80er ein paarmal zu Besuch war, ihn in seinem Buch „Schwarzenberg“ dann aber „Kießling“ nannte, ist Paul Korb ein bissel sauer. Nicht wegen des Namens, ach wo. „Nu, der hat sich die ganze Geschichte drei Tage von mir erzählen lassen“, nuschelt er, „und dann ziemlich viel rumgedichtet.“

Heyms Verdienst sei schon, „daß er die Geschichte bekanntgemacht hat – aber dummerweise nicht die richtige“. Heym habe Personen dazuerfunden und andere weggelassen. Und außerdem hat er seinem Kießling eine kurze, leidenschaftliche Affäre mit einer sowjetischen Fremdarbeiterin verschafft. „Die gab's nie“, beteuert Korb. Vor allem das ärgert den Alten: „daß ich immer suchen muß: was hat er denn nun aus dem Leben und was hat er da bei sich in Berlin dazugesponn'“.

Korb, 1921 in den kommunistischen Jugendverband eingetreten, gesteht schon, „daß wir natürlich an eine andere, eine gerechte Gesellschaft gedacht haben, als wir anfingen“. Allerdings habe auf der Tagesordnung ganz anderes gestanden als Träume vom Sieg des Sozialismus. In seinem ersten Aufruf teilte das Aktionskomitee schlicht mit: „Alle nationalsozialistischen Gesetze sind außer Kraft gesetzt. Im Moment ist jedoch keine Zeit, neue zu erlassen.“ So war das damals, in Wirklichkeit, schnupft Korb: „Alles andere, diesen ganzen Kokolores mit der ,Freien Republik Schwarzenberg‘, das hat alles erst der Heym erfunden.“

... und den Leuten was zu beißen geben“

Es hätte auch keine „Verhandlungen“ mit Russen und Amerikanern gegeben. „Die Amis sind bloß zweimal gekommen“, erinnert sich das letzte lebende Mitglied des Aktionsausschusses, „einmal haben sie alle wertvollen historischen Waffen beschlagnahmt, beim zweiten Mal alle teuren Leica-Kameras geklaut.“ Genau so frei war die Republik, nicht wahr. Der Korb-Paul nickt wichtig. Im übrigen, auch wenn das heute niemand mehr wissen wolle, sagt Korb, „haben wir ja die ganze Zeit gewußt, daß sie eines Tages kommen werden“. Mehrmals ist er sogar selbst bei den russischen „Freunden“ gewesen, um die zu überreden, „uns doch endlich zu besetzen“. Aber Marschall Mologow, der Korb und Bürgermeister Irmisch überhaupt bloß wegen Korbs KPD-Ausweis anhört, beendete die dringliche Nachfrage mit einem knappen „Ich habe Befehl bis Annaberg, nicht weiter.“

„Ohne jäde Obrichkeit“, so Korb, trotzte das Aktionskomitee sechs Wochen notgedrungen dem Zusammenbruch. „Freilich wußten wir, daß wir paar Mann nicht regieren können“, meint Korb. Von SPD und KPD waren nach 13 Jahren Hitler nur noch Reste übrig. „Also haben wir gesagt: Alle Bürger über 14 Jahre, die keine Nazis waren, können in der antifaschistischen Bewegung mitmachen.“ Innerhalb weniger Wochen tragen sich 6.000 Menschen in die Mitgliederlisten ein. Damals war man im Aktionsausschuß begeistert. Stieg er da nicht aus den Trümmern, der neue Mensch? Heute sieht Korb das nüchterner: „Die Menschen waren doch so verzweifelt, die folgten halt dem ersten, der ihnen einen Weg aus dem Elend weisen wollt'.“

Arbeit gibt es genug. Waffen, die verstreut in den Wäldern liegen, müssen eingesammelt, Munition muß geborgen werden, Geschütze, Panzer und Haubitzen müssen von den Straßen. Die Post wird wieder in Gang gebracht, eine Zeitung herausgegeben und Transportmöglichkeiten für Zwangsarbeiter geschaffen. „Wir haben Essen besorgt und Nazis gejagt“, schmunzelt Paul Korb. Manchmal auch beides zusammen. So gelingt es Korbs Männern in einer Nacht-und-Nebel- Aktion, Martin Mutschmann, den flüchtigen Nazi-Gauleiter von Sachsen, in einer Jagdhütte aufzustöbern. Hier hatte der hochrangige Nazi, versorgt mit drei Zentnern Butter, 700 Büchsen Rindfleisch und elf Kisten Schokolade, auf den Endsieg warten wollen.

„Klar, daß wir immer gewartet haben, daß jemand anders die Verantwortung übernimmt“, beschreibt Korb. Doch erst Ende Juni ist es soweit. Russen und Amerikaner haben sich über die Aufteilung Deutschlands geeinigt – die US- Truppen ziehen aus Aue ab, die Rote Armee stößt nach Westen vor bis Erfurt. Am Vormittag des 26. Juni treffen die Besatzer in Schwarzenberg ein. Zu Fuß. Ein Offizier, begleitet von zehn Soldaten und einer Dolmetscherin, übernimmt die Macht in der „Freien Republik“.

Die Antifaschistische Bewegung wird Anfang Juli als „ungenehmigte Vereinigung“ von Marschall Mologow zwangsaufgelöst. Bürgermeister Irmisch verliert bei der ersten Wahl im Herbst haushoch gegen einen Kandidaten von der CDU. Paul Korb bleibt noch bis 1947 Polizeichef, dann geht er zum Rat des Kreises, wo er immer mal wieder aneckt, „weil ich kraft meiner Wassersuppe gesagt habe, wenn mir was nicht paßte“. Aber ihm, meint er, konnten sie ja nichts: „Parteistrafe hin, Parteistrafe her – ich war doch Kämpfer gegen den Faschismus.“

Im Januar 1990 hat der Schwarzenberger Bürgermeister die kleine realsozialistische Gedenkecke an die „unbesetzte Zone“ als „nicht mehr zeitgemäß“ aus dem Rathausfoyer entfernen lassen. Im Dezember letzten Jahres schraubten Unbekannte dann auch die Gedenktafel von der Fassade. Zwar gibt es inzwischen eine neue Tafel, aber zur offiziellen Feierstunde hat die Stadtverwaltung Korb nicht eingeladen. Man wolle sich nicht so mit einer Sache identifizieren, bei der Kommunisten die führende Rolle spielten. „Führende Rolle hatten wir lange genug“, hieß es im Rathaus.

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