: Den Mordverdacht aus der Welt gemogelt
Zwei Jahre nach dem tödlichen Polizeieinsatz in Bad Kleinen hat sich die These vom Selbstmord des RAF-Mitgliedes Wolfgang Grams durchgesetzt – trotz gegenteiliger Zeugenaussagen und widersprechender Gutachten ■ Von Wolfgang Gast
Am 27. Juni 1993, vor genau zwei Jahren, kam es auf dem Bahnhof in Bad Kleinen (Mecklenburg- Vorpommern) zu einer dramatischen Schießerei. Am Ende waren der GSG-9-Beamte Michael Newrzella und das Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF), Wolfgang Grams, tot. Grams' RAF-Gefährtin Birgit Hogefeld wurde verhaftet. Wenige Tage später wurde der V-Mann des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes, Klaus Steinmetz, enttarnt. Er hatte die Fahnder zu dem RAF-Pärchen geführt.
Anfangs wurde die Aktion mit Todesfolge als großer Erfolg in der Terrorismusbekämpfung ausgegeben. Das Selbstlob wich erst, als durch die Aussagen einer Kioskverkäuferin und eines Polizeibeamten, der ungenannt bleiben wollte, der ungeheure Verdacht auftauchte, Grams sei – möglicherweise aus Rache für den erschossenen Kollegen Newrzella – aus nächster Nähe erschossen worden, als er bereits wehrlos auf den Gleisen lag. Die Medien, die diesem Verdacht nachgingen, deckten bei ihren Recherchen immer neue Pannen bei der Vorbereitung, der Ausführung der Aktion mit dem Tarnnamen „Weinlese“ und bei der Spurensicherung am Tatort auf. Der mißlungene Einsatz hatte Folgen: Innenminister Rudolf Seiters trat zurück, führende Beamte im Bundeskriminalamt und auch der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, der die Einsatzleitung an sich gezogen hatte, mußten den Hut nehmen.
Die wilde Schießerei beschäftigte monatelang den Bundestag, den Bonner Innenausschuß und mehrere Staatsanwaltschaften. Immer stand im Zentrum die Frage, unter welchen Umständen das RAF-Mitglied Grams beim mißglückten Versuch der Festnahme ums Leben kam. Pannen über Pannen zählte schließlich auch ein Schlußbericht der Bundesregierung zu den Vorgängen in Bad Kleinen auf. Der böse Verdacht aber, daß Beamte der Grenzschutzsondereinheit GSG9 das RAF-Mitglied Grams noch am Tatort mit einem Kopfschuß regelrecht hingerichtet hatten, wurde nach und nach entsorgt. Trotz gegenteiliger Zeugenaussagen, trotz einer Vielzahl an Unstimmigkeiten, trotz widersprüchlicher Expertengutachten.
Der Freispruch für die unter Verdacht stehenden Grenzschutzelitebeamten erfolgte im Umkehrschluß. „Es gibt somit auch aus unserer Sicht keine neuen Erkenntnisse, die zwingend gegen eine Selbstbeibringung des Nahschusses durch Grams sprechen würden.“ Mecklenburg-Vorpommerns Justizminister Herbert Helmrich (CDU) war einer der ersten, der sich anschickte, gestützt auf ein Schlußgutachten des wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich, den bösen Verdacht zu entkräften. Das Wort „zwingend“ war in seiner Presseerklärung unterstrichen. Keiner sollte zweifeln müssen: Wenn schon nichts dagegen spricht, dann spricht alles dafür. Dafür, daß sich der schwerverletzte Wolfgang Grams am Ende der Schießerei selbst das Leben nahm.
Helmrich räumte zwar ein, daß es eine „lupenreine“ Rekonstruktion der Vorgänge nicht werde geben können, auch daß am Ende der Emittlungen nur eine „warscheinlichste Variante“ stehen werde – der erste Schritt, den schlimmen Verdacht zu beseitigen, war aber getan.
Der Vollwaschgang war allerdings vorsorglich schon Wochen zuvor eingelegt worden. Auch die Schweriner Staatsanwaltschaft, die das „Todesermittlungsverfahren“ im Fall Grams führte, gab Entwarnung. Die Todesumstände des mutmaßlichen Terroristen seien „widerspruchsfrei durch Selbstbeibringung“ zu erklären. Parallel verlief wenig später die öffentliche Demontage jener beiden Zeugen, die behauptet hatten, der namenlose GSG-9-Beamte mit der Codenummer 6 habe den bereits reglos auf den Gleisen liegenden Wolfgang Grams mit einem aufgesetzten Kopfschuß getötet. Sowohl der am Einsatz beteiligte anonyme Beamte, der sich dem Spiegel offenbarte, als auch die Kioskverkäuferin Johanna Baron seien „in ihren zentralen Aussagen unglaubwürdig“. Beide hatten unabhängig voneinander von einer exekutionsähnlichen Handlung auf dem Bahnsteig berichtet. Als glaubwürdig galten den Staatsanwälten dagegen die Aussagen von 22 am Einsatz beteiligten Zeugen. Obwohl diese, wie ein Schweriner Ermittler Mitte Juli 1993 erklärte, „mit den phantasievollsten Begründungen“ alle dasselbe gesehen hatten: nämlich nichts.
Dieser kollektive Blackout geriet manchen Winkeldenkern anschließend sogar zum Nachweis der Selbstmordthese. „Wenn es diesen angeblichen Gruppenzwang (in der GSG9; d. Red.) gäbe“, erläuterte aus seinem Schmollwinkel heraus der geschaßte Generalbundesanwalt Alexander von Stahl in der Zeitschrift Die Woche, „dann wäre es das einfachste gewesen, sich auf die Selbstmordversion zu einigen.“ Tatsächlich hat es so nicht sein können. Denn als die Beamten ihre „phantasievollen“ Versionen zu Protokoll gaben, konnten sie keinesfalls sicher sein, daß sich nicht weitere unbeteiligte Zeugen melden und sie umgehend widerlegen würden. Der Verdacht der vorsätzlichen Tötung wurde aber so durch einen anderen ausgetauscht: daß nämlich neben einer sensationslüsternen Öffentlichkeit auch „die Polizeiführung einige Zeit selbst daran glaubte, daß es etwas zu vertuschen geben könnte“.
Folgt man der Lesart der Staatsanwälte und dem Tenor des Schlußberichts der Bundesregierung, dann hat sich der Tod von Wolfgang Grams in etwa wie folgt zugetragen: Beim Versuch der Festnahme im Füßgängertunnel des Bahnhofs flüchtet Grams die Treppe zum Bahnsteig zwischen den Gleisen drei und vier hinauf. Innerhalb von fünf oder sechs Sekunden feuert er dabei an die zehnmal mit seiner Pistole. Er erschießt den GSG-9-Beamten Newrzella, der ihm auf der Treppe in kurzer Distanz gefolgt ist. Ein weiterer Polizist wird von Grams angeschossen. Alles geschieht im Laufen. Grams, der das obere Treppenende erreicht hat, wird dann durch einen Bauchschuß und vier weitere Treffer schwer verletzt. Er stürzt rücklings auf die Gleise, ohne seine Waffe zu verlieren. Angesichts seiner aussichtslosen Lage faßt Grams den Beschluß, sich zu erschießen. Er tötet sich mit einem Schuß in die Schläfe.
Selbst gestandenen Fahndern aus der Terrorismusabteilung des Bundeskriminalamtes leuchtet ein solcher Ablauf nicht ein. Daß ein von einer Polizeikugel mit voller Wucht Getroffener noch in der Lage sein soll, in Sekundenfrist den eigenen Suizid zu beschließen und durchzuführen, das scheint den Polizeipraktikern nahezu ausgeschlossen.
Zweifelsfrei stammte nach Aussagen der Schweizer Gutachter der tödliche aufgesetzte Kopfschuß aus der Waffe von Grams. Das gehe sowohl aus der „Stanzmarke“ an der Schläfe der Leiche hervor als auch aus dem Pulver und den Projektilen, die ebenfalls nur der Waffe von Grams zuzuordnen seien. Der wissenschaftliche Dienst der Stadtpolizei erörterte auch die Möglichkeit, ob „eine unfallmäßige Schußbeibringung zumindest denkbar“ wäre. Die Experten sahen sich aber nicht in der Lage, „dazu Feststellungen zu treffen“. Auch auf die Nachfrage, ob denn sicher sei, daß Grams seine Waffe bis zuletzt in der Hand gehabt habe, mußte Minister Helmrich bei der Vorstellung der Expertise passen: „Dazu sagt das Gutachten nichts.“
Ungereimtheiten gab es auch in der „gutachterlichen Stellungnahme“ des rechtsmedizinischen Institutes der Universität Münster vom 19. September 1993, das ebenfalls mit der Untersuchung der Todesumstände befaßt war. Unter Leitung von Professor Brinkmann wurde unter anderem auch die Kleidung der eingesetzten GSG-9- Beamten spurenkundlich ausgewertet. Auch die des Beamten Nr.6, der im Verdacht stand, Grams den tödlichen Kopfschuß versetzt zu haben. Die Ergebnisse aus der Auswertung seiner Bekleidung stützen sich auf wackelige Indizien. Denn die Rechtsmediziner aus Münster mußten einräumen: „bezüglich der Hose (welche frisch gewaschen erschien), der Schuhe, Holster, Handschuhe, ist eine Interpretation des (negativen) Spurenbildes nicht mit der erforderlichen Sicherheit möglich, da insoweit eine Reinigung stattgefunden haben kann“.
Mitte letzten Jahres zog dann der renommierte Düsseldorfer Rechtsmediziner Wolfgang Bonte die amtliche Version vom Selbstmord Grams in Zweifel. Im Auftrag der Eltern von Wolfgang Grams fertigte Bonte ein Gutachten, in dem er seinen Fachkollegen schwerwiegende Fehler vorhielt. „Fremdtäterschaft“, so Bonte, könne nicht ausgeschlossen werden. Eine Hautabschürfung auf der rechten Hand von Grams beweise, daß ihm seine Pistole entwunden worden sei. Auch die „Lage des Kopfes bei Schußerhalt“ hätten die anderen Gutachter falsch berechnet. Bonte widersprach auch dem Schluß seiner Kollegen, daß außer dem Kopfschuß alle Schüsse auf Grams aus mindestens anderthalb Meter Entfernung abgegeben worden seien: „Schüsse aus wesentlich kürzerer Distanz sind keineswegs auszuschließen.“ Mit Bontes Gutachten wollen die Eltern von Wolfgang Grams eine Wiederaufnahme der Ermittlungen erreichen – bislang ohne Ergebnis.
Vor knapp zwei Wochen präsentierten nun die Anwälte der Grams-Eltern einen neuen Zeugen. Er soll bestätigen können, daß Wolfgang Grams tatsächlich erschossen wurde. Wie die Anwälte, der Wiesbadener Andreas Groß und Thomas Kieseritzky aus Frankfurt am Main, mitteilten, liegt dem Generalstaatsanwalt des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Alexander Prechtel, die beeidete richterliche Aussage eines bisher unbekannten Mannes vor. Dieser bekunde, daß er „aus etwa 15 Meter Entfernung beobachtet habe, wie zwei Personen zu einem zwischen den Schienen liegenden Mann hingelaufen seien. Eine dieser Personen habe sich neben die am Boden liegende Person gekniet, dieser eine Waffe an den Kopf gesetzt und abgedrückt“.
Die Anwälte zogen daraus die Schlußfolgerung, „daß es keine vernünftigen Zweifel daran geben kann, daß Wolfgang Grams durch einen GSG-9-Beamten erschossen worden ist“. Bereits im Juni letzten Jahres hatten die beiden Juristen Strafanzeige gegen drei der eingesetzten Grenzschutzbeamten erstattet und erfolglos beantragt, ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes einzuleiten.
Der Generalstaatsanwalt Prechtel bestätigte die neue Aussage. Der Mann habe sie am 29. März auf Veranlassung seiner Behörde vor dem Amtsgericht in Bremen abgegeben. Prechtel zog, warscheinlich zu Recht, die Glaubwürdigkeit des neuen Beobachters in Zweifel. Zum einen, erklärte Prechtel, müsse man fragen, warum sich der Zeuge erst eineinhalb Jahre nach der Schießerei gemeldet habe. Zum anderen sei klärungsbedürftig, „was eigene Kenntnis oder was Zeitungslektüre ist“. Bei dem neuen Zeugen handelte es sich um einen 71jährigen aus Bremen, der als Beruf Journalist angab. Er sagte aus, auf dem Weg von Schwerin nach Hamburg gewesen zu sein. Beim Umsteigen in Bad Kleinen habe er die Schießerei miterlebt. Er habe dabei gesehen, wie einer der Beamten dem auf den Bahngleisen liegenden Grams die Waffe an den Kopf gehalten und „abgedrückt“ habe. Über sich gab der Zeuge zu Protokoll, er betreibe einen „aggressiven Journalismus, insbesondere gegen Personen, die beim Lügen ertappt werden. Dabei mache ich auch vor den politischen Größen nicht halt, auch wenn es sich um den Bundeskanzler handelt.“
So fragwürdig die Aussagen des neuen Zeugen auch sein mögen, allein der Umgang mit ihnen ist symptomatisch für das Verhalten der Staatsanwaltschaften. Vor über einem Jahr legten Groß und Kieseritzky bei den Schweriner Staatsanwälten Beschwerde gegen die Einstellung des Todesermittlungsverfahrens ein. Seither ist offiziell nichts geschehen. Nur informell erfuhren die Anwälte, daß weitere Zeugen vernommen wurden. Erst nach massiven Protesten wurden ihnen die Akten übermittelt.
Auch der „Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein“ hat im November vergangenen Jahres wegen „einer erdrückenden Fülle offener Fragen“ eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu den Todesumständen von Wolfgang Grams gefordert. Dazu ist es bisher nicht gekommen.
Die Tatsache, daß keiner der eingesetzten Beamten den Selbstmord von Grams beobachtet haben will, macht ihn auch heute nicht wahrscheinlicher. Im Gegenteil, sie macht ihn unwahrscheinlicher. Die gezielte Tötung des bereits wehrlosen Grams behaupten immerhin drei Zeugen. Ob sie die Wahrheit sagen oder bewußt oder unbewußt die Unwahrheit, steht in Zweifel. Schließlich hat auch die These von der Ermordung von Grams einige Lücken. Um so wichtiger wäre es, die Vorgänge in Bad Kleinen soweit wie möglich aufzuklären, sei es vor Gericht oder von einem Untersuchungsausschuß. Doch daran hat, wie es scheint, zwei Jahre nach Bad Kleinen keiner der Zuständigen ein Interesse. Die vom Bonner Innenminister Kanther bei seinem Amtsantritt beschworene rückhaltlose Aufklärung hat es nicht gegeben. Es lebt sich offenbar leichter mit der Version eines Suizids.
Statt Aufklärung betreiben einige der Verantwortlichen Geschichtsklitterung: „Meine eigene Entlassung war nur noch eine Frage der Zeit, da die Justizministerin befürchtete, sonst selbst unter die Räder der Medienhysterie zu geraten.“ Der Geschaßte ist der frühere Generalbundesanwalt Alexander von Stahl. Heute noch kann er nicht fassen, daß auch er die Verantwortung für die mörderische GSG-9-Aktion übernehmen mußte. Nachdem der Verdacht der vorsätzlichen Tötung mehr oder weniger aus der Welt geschafft ist, mutiert nicht nur bei ihm Bad Kleinen zu einem reinen „Medienskandal“.
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