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Eine erste Bestandsaufnahme

Ein Jahr danach: Versuch, die Entwicklungen und Ereignisse in Südafrika mit Descartes zu verstehen  ■ Von Nadine Gordimer

1. Niemals eine Sache als wahr anzunehmen, die ich nicht als solche deutlich erkennen würde, das heißt sorgfältig die Übereilung und das Vorurteil zu vermeiden und in meinen Urteilen nur so viel zu begreifen, als sich meinem Geist so klar und deutlich darstellen würde, daß ich gar keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln. 2. Jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, als möglich und zur besseren Lösung wünschenswert wäre. 3. Meine Gedanken richtig zu ordnen; zu beginnen mit den einfachsten und faßlichsten Objekten und aufzusteigen allmählich und gleichsam stufenweise bis zu der Erkenntnis der kompliziertesten, und selbst solche Dinge in gewisser Weise zu ordnen, bei denen ihrer Natur nach nicht die einen den anderen vorausgehen. 4. Überall so vollständige Aufzählungen und so umfassende Übersichten zu machen, daß ich sicher wäre, nichts auszulassen. (Descartes)

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Kann ich Descartes' Methode bei einer Bestandsaufnahme dieses einen Jahres überhaupt befolgen, dieses Jahres, in dessen einzigartige Neuheit, in dessen Vorwärtsdrängen all das Aufgestaute einging, das sich in den Sackgassen der Vergangenheit angesammelt hatte? Es ähnelt einer sich überschlagenden Woge; zwölf Monate reichen kaum, um wieder zu Atem zu kommen. Ich will es versuchen.

Beginnen wir am besten mit der dritten Regel. Soviel ist wahr: Die Reflexionen lassen sich nicht chronologisch ordnen, sondern drängen sich idiosynkratisch auf, Öffentliches ist mit Privatem verzahnt, und so muß das persönliche Wertesystem vom politisch-sozialen isoliert werden. Es ist leicht und einfach, meine eigene Freude zu empfinden, wenn ich Freunde, die ich als Exulanten gekannt habe, als Gefangene, Ausgestoßene, Gejagte im Untergrund, nun in hohen Ämtern sehe, international geachtet, wenn ihre einstmals verbannten Stimmen in der Presse zitiert und ihre verbotenen Gesichter im Fernsehen gezeigt werden.

Jessie Duarte zum Beispiel, die noch vor einigen Jahren – einer winzigen Fackel gleich – in der Internierung die Frauen dazu brachte, aus Protest gegen ihre Inhaftierung ohne Prozeß ihre Matratzen zu verbrennen; dieses Jahr, als Sicherheits-Ministerin in Gauteng, steht sie standhaft auf der anderen Seite der Rechtsprechung, setzt sich mit verfeindeten Taxifahrern und streikenden Polizisten auseinander und wußte im Februar bei einem offiziellen Essen die Königin von England elegant und protokollgerecht anzukündigen. Oder Albie Sachs, dem ein Kommando der Apartheidregierung einen halben Arm und ein Auge weggesprengt hatte, sitzt heute als Richter im Verfassungsgericht. Und Mongane Wally Serote, Dichter im Exil, der sich in aller Welt für den ANC engagierte, ist heute rechtmäßig gewählter Abgeordneter im Parlament. Gemessen an Regel 1 – als wahr angenommen, weil deutlich als wahr erkannt – wurde in diesen Individuen die Gerechtigkeit wahr, und Gerechtigkeit ist süßer als Rache.

Weiter zum kompliziertesten, zu den öffentlichen Ereignissen. Es brauchte mehr Platz, um (Regel 2) jede zu untersuchende Schwierigkeit – oder vielmehr meine eigene Reaktion auf sie – in so viele Teile wie möglich zu teilen und damit ins reine zu kommen. Es gibt eine ganze Reihe davon: Der jämmerliche Abgang der weißen Rechtsextremisten, die ich fürchtete, im letzten Jahr; demgegenüber, wie zu erwarten, die anhaltende unverschämte Unruhestifterei Buthelezis; und die unerwarteten Gefahren, die sich in Winnie Mandelas Willen zur Macht zeigen. Ich möchte die Uhr nicht zurückdrehen – mit einer Ausnahme: Winnie Mandela. Ich wünschte, wir könnten noch einmal zu ihrem Auftritt zurückdrehen, als sie Hand in Hand mit Nelson Mandela aus seinem Gefängnis trat, damit diese außergewöhnliche Frau, die ich in früheren Jahren gekannt und hoch geachtet habe, selbst erkennen könnte, daß wenn sie ihren Platz neben ihm eingehalten hätte, keine bloße Begleiterin gewesen wäre. Er ist der größte Staatsmann der heutigen Welt – eine Erfüllung all dessen, worauf wir am 27. April letzten Jahres gehofft haben. Das Paar hätte diese Wirkung verdoppelt, eine einzigartige Kombination in dieser Welt, unser Anteil an dieser Welt. Darin hätte ihre Macht liegen können. Eine weitere Schwierigkeit, der ich mich in meinem Denken klar und deutlich stellen muß, ist das, was man als Arbeitsunruhen bezeichnet. Streiks gelten in der unseren und in der ausländischen Presse als sicheres Anzeichen dafür, daß die Dinge in unserem Lande nicht zum besten stehen; ausländische Investoren ziehen sich in ihre Konzernpanzer zurück. Ein Scheitern der Demokratie soll es sein, wenn Arbeiter streiken? Was wollen wir denn eigentlich – den „industriellen Frieden“ unseres alten Polizeistaats?

Damals wagten nur die tapfersten oder tollkühnsten Arbeiter zu streiken. Tränengas, Hunde und Gewehre waren die Verhandlungsangebote, die man ihnen machte. Die Streiks sind ein Beweis, daß die Demokratie in unserem Lande zu funktionieren beginnt. Sicherlich schmerzhaft. Was an diesen Arbeiteraktionen „falsch läuft“, gehört zu den Erbteilen der Apartheid, die uns noch lange Zeit plagen werden. Während die Gewerkschaften zu Recht einen menschenwürdigen Lohn fordern (gerade habe ich gehört, die niedrigsten Ränge in unserer Polizei sollten von 700 Rand – 192 US-Dollar – monatlich leben), sichere Arbeitsbedingungen in Bergwerken und Fabriken, Mitspracherechte und Offenlegung der Bücher, haben sie ihre Mitglieder noch nicht über die Beziehung zwischen Produktion, Profit und Lohn aufgeklärt.

Die Bosse ihrerseits verspürten nicht den Wunsch, sich über die Beziehung zwischen Arbeitern und Bossen in einer Demokratie aufzuklären; nach Jahrzehnten, in denen man nur eine Ladung Wanderarbeiter – wie Charlie Chaplin in „Moderne Zeiten“ – vor die richtigen Hebel und Schalter setzen mußte, können sich die Männer in den Vorständen nur schwer zu der Erkenntnis durchringen, daß in einer Demokratie nur dann industrieller Friede herrschen kann, wenn die Arbeiter bei der Erarbeitung der Strategien und Entscheidungen des Managements nicht durch Marionetten oder Symbole vertreten werden. Solcher Art sind die modernen Zeiten, die wir für unser Land und unsere Zeit brauchen.

Einige der Ereignisse, denen man in unserem ersten Jahr als besonders kompliziert (erneut die Regel 3) besorgt entgegensah, haben sich meiner Ansicht nach glücklicherweise als harmlos entpuppt. Dazu gehörte im Januar der Beginn des Schuljahrs 1995. Hier begann die Umwandlung unserer Welt am richtigen Fleck – bei den Kindern. Viele schwarze Kinder – sowohl die aus den isolierten Townships als auch die aus den Städten, die mit ihren Eltern diese Isolation verlassen hatten – wurden an jenem Morgen in einstmals weißen Schulen registriert. Diese Kinder mußten nicht von Polizei oder Armee eskortiert werden, wie es in den USA erforderlich war, als dort die Rassentrennung in den Schulen aufgehoben wurde. Es gab kaum eine Handvoll Vorfälle, bei denen sich weiße Menschen zum Protest versammelten. Natürlich fehlen der Mehrheit der schwarzen Kinder in den städtischen und ländlichen Ghettos, die von der Apartheid geschaffen wurden, noch immer ausreichend Schulen und Lehrer – das ist ein riesiger Mangel. Aber jedesmal, wenn ich am Ende eines Schultages an einer Schule vorbeigehe, sehe ich schwarze und weiße Kinder aus den Klassenzimmern strömen, die kleinen Jungen fröhlich rangelnd, die Mädchen zusammen kichernd. Ich weiß, daß sich am Fundament unseres Lebens etwas Schändliches in die Entstehung menschlicher Erfüllung verwandelt hat.

Das Gebot (Regel 4), mit Sicherheit nichts auszulassen? Diese Regel könnte ich nicht einmal versuchen zu befolgen, weil im Zeitraum eines einzigen Jahres so viel anzusprechen bleibt, so viel „ausgelassen“ werden mußte, bis zum nächsten Jahr; auf Jahre hinaus. Was mich angeht, haben mich einige Ereignisse vielleicht beunruhigt, aber ich war weder enttäuscht noch desillusioniert; es war ein Jahr gewaltiger Erfolge, denkt man an die Generationen zuvor. Für ein gesundes Gleichgewicht muß ich natürlich Leibniz' Spott zitieren, Descartes' Regeln glichen den „Rezepten eines Chemikers: nimm, was du brauchst und tu, was du sollst, so wirst du erhalten, was du willst“. Nun, ich glaube auch weiterhin, daß es so sein wird.

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