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Ende einer Überflüssigen

Erinnerung an die vor 75 Jahren gestorbene Schriftstellerin Lena Christ, die Vorläuferin der realistischen bayerischen Heimatliteratur  ■ Von Willi Winkler

Als sie ans Sterben ging, die letzten Briefe geschrieben und den Kindern empfohlen hatte, die weißen Kleider für den Herbst schwarz zu färben, legte sie frische Leibwäsche an, zog ein einfaches Seidenkleid darüber und fuhr mit der Straßenbahn hinaus an den Münchner Waldfriedhof. Sie suchte das Grab, in dem der Vater ihrer einzigen Liebe lag, lehnte den leichten Schirm gegen das Grabmal, hängte daran ihre Handtasche und nahm das Zyankali. Der Hut rollte ins Gras.

Heute ist es 75 Jahre her, daß sich die bayerische Schriftstellerin Lena Christ das bißchen Leben nahm, das ihr mit 38 noch geblieben war. Sie hatte ein paar Bilder gefälscht, Land- und Tierstücke von drittklassigen voralpenländischen Meistern mit den Namen von zweitklassigen signiert und sie verkauft. Den ganzen Juni über wurde sie durch die Zeitungen gehetzt: „Romanschriftstellerin als Bilderfälscherin“.

Unehelich war sie 1881 in Glonn, knapp unterhalb von München, zur Welt gekommen, ein erfolgreich verleugnetes Herrschaftskind vermutlich, obwohl Lena Christ die poetischere Lesart vorzog und einen Karl Christ aus Mönchsroth bei Ansbach als Vater angab und daß er beim Auswandern nach Amerika samt seinem Dampfer im Atlantik untergegangen sei. Die Mutter haßte ihr Kind, ihre Schande, gab es bei den eigenen Eltern in Pflege, ging als Herrschaftsköchin nach München und kam als Gattin eines Gastwirts zu bescheidenem Wohlstand. Da durfte dann auch die Leni vom Land herein und in die Münchner Stadt kommen, eine schlechtere Dienstmagd von klein auf.

In den „Erinnerungen einer Überflüssigen“ (1912 erschienen) hat sie ihren weiteren Weg nach unten drastisch geschildert: wie sie schon vor der Schule Holz holen und Feuer machen mußte, so daß sie zu spät in den Unterricht kam, weshalb sie nachsitzen mußte, wofür sie bei ihrer Heimkunft von der Mutter erst mal windelweich geschlagen wurde, ehe das reguläre Tagwerk der Leibeigenen begann. Immer wenn die Mutter ein weiteres, ein eheliches Kind erwartet, verhärtet sich ihr Herz noch mehr. Da kann es schon sein, daß sie vor der Zeit mit dem Prügeln aufhören muß und den Ochsenziemer an den Stiefvater weiterreicht, damit der das Werk fortsetzt: „Hin muaßt sein, verrecka muaßt ma!“

Leni läuft davon. Sie läuft die Bahnstrecke entlang, auf den Schwellen nach Trudering, nach Zorneding, will zurück nach Glonn, zur ihrem geliebten Großvater. Ein andermal irrt sie durch die Münchner Vororte, wird als Hysterikerin aufgegriffen und erwartet in panischer Angst die tobende Mutter. Das Krankenblatt der Gastwirtstochter Magdalena Pichler hat sich erhalten: Nach drei Tagen wird sie als „arbeitsfähig“ entlassen.

Genau darum geht es in den einmaligen Büchern der Lena Christ: Sie kann nichts, hat nichts, sie ist nur gut zur Arbeit. Wer nichts ist, was soll der tun? Der geht sich verkaufen Tag für Tag. Die rührwilligen Damen, die achtzig Jahre später so seelenschwesterlich fühlten mit Anna Wimschneiders Los, die's so schön gruselte bei all dem Elend und der vielen Herbstmilch zum Nachkochen, was würden sie sich erschrecken, wenn sie diese erbarmungslose Selbsterlebensbeschreibung lesen würden!

Frostkalt wie sonst nur Karl Philipp Moritz in seinem „Anton Reiser“ beschreibt die gewesene Leibsklavin, wie auch sie, „von der Wiege an unterdrückt“, sich durchs Leben fretten mußte. Wie bei Moritz ergänzt sich die Frömmelei zur Folter: Wenn Leni heimkommt vom Knien in der Frühmesse, darf sie zur Strafe für irgendeine Kleinigkeit auf einem Holzscheit in der Küche gleich weiterknien. Bloß fort von daheim, ins Kloster, zum lb. Jesukindlein.

Nach 15 Monaten verläßt Lena das Kloster wieder, zu Hause schneidet sie sich mit dem Tranchiermesser die Pulsadern auf. Groß die mütterliche Freude, als die Tochter aus dem Krankenhaus heimkommt: „Bist no net hin?“ So heiratet sie fort, wohlversehen mit dem Muttersegen am Hochzeitsmorgen: „Du sollst koa glücklich' Stund' habn.“

Und er wirkt, der fromme Wunsch: Der Ehemann schlägt sie zwar nicht, versäuft dafür ihr Geld, sorgt für Fehlgeburten und drei Kinder und wandert wegen Unterschlagung ins Gefängnis.

1911 kam die mittellose Lena Pichler als Schreibkraft zu dem Schriftsteller Peter Jerusalem. Er wollte ihr seine Sachen diktieren, war aber sogleich fasziniert von ihrer Lebensgeschichte, half ihr, sie aufzuschreiben, und machte sie innerhalb von Monaten zur Autorin. Der Weg nach unten verlief plötzlich nach oben, wo die Gesetze der Tauschwirtschaft gelten: Jerusalem wurde ihr Agent und Betreuer, sie versorgte ihn. Dann heirateten sie.

Die Erzählung von der „Rumplhanni“ (1916) folgt aus dieser existentiellen Kehre: Die Dienstmagd auf dem Hauserhof, die „singend ihre Arbeit“ tut, ist rechtschaffen besitzgierig. Dem Hoferben spielt sie eine Schwangerschaft vor, bis er ihr die Ehe verspricht; seinen Vater wickelt sie um den Finger; dem Nachbarn dreht sie extra schöne Augen, aber weil sie gar zu ehrgeizig ist, fliegen ihre Pläne auf. Sie muß nach München und sich verdingen, verbringt eine Nacht im Gefängnis, gewinnt aber durch ihren unbändigen Fleiß einen Metzgerburschen und eine Gastwirtschaft.

Dreimal fällt in diesem Buch das Wirtschaftswort „riegelsam“, ein rein bayerischer Ausdruck, den der Sprachforscher Schmeller als „regsam, rührig, thätig“ übersetzt. Lena Christ arbeitete sich allein mit ihren Büchern hoch. Der König empfing sie, weil sie 1914 wehrkraftertüchtigend in die Kriegsbegeisterung eingefallen war, man mußte dieses Wundertier bestaunen, das so gar nichts Schwabinghaftes an sich hatte und alles nur nach der Kaufkraft taxierte.

Es gibt ja Leute, die halten Thomas Mann für einen bedeutenden Schriftsteller. Für diese beiden Bücher, „Erinnerungen einer Überflüssigen“ und „Die Rumplhanni“, pfeif ich auf den ganzen Mann (Golo, Heinrich, Klaus, Katia, Viktor, Erika eingeschlossen). Bei Lena Christ gibt es keine Gefühle, sie gälten denn dem „Sach“, dem Hab und Gut, den möglichst vielen Viechern im Stall. Wenn der Sohn sich in den Weltkrieg verabschiedet, läßt er Mutter und Schwester stehen und grüßt dafür jede einzelne Kuh ein letztes Mal. Unvernünftig wäre es, sein Herz an irgendwelche Menschen zu hängen.

Lena Christ verließ den Mann, der sie entdeckt hatte, bandelte mit einem kriegsversehrten Sänger an, der sich alsbald davonmachte. Vom Sach war nichts geblieben, nicht mehr als „mein guter Künstlername“. Mit dem ging sie Bilder fälschen und fuhr schließlich hinaus auf den Waldfriedhof.

„Jetzt will ich noch ein wenig schlafen“, sagte die riegelsame Lena Christ am Abend vor ihrem Tod. Einmal wenigstens wollte sie ausgeruht ans Tagwerk gehen. Der Strohhut im Gras, der Schirm daneben und die Handtasche: ein Sommeridyll, heute vor 75 Jahren.

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