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Die Zeitung bin ich

■ Damit Gysi wieder „Stasi-Spitzel“ genannt werden darf, durchlebte die „Berliner Zeitung“ einen Sturm im Wasserglas

Wenn es um die rückhaltlose Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit geht, nimmt es die Berliner Zeitung mit der Meinungsfreiheit im eigenen Haus nicht so genau: Vergangene Woche berichtete man in eigener Sache, daß die Zeitung Klage erhebt, um Gregor Gysi wieder „Stasi-Spitzel“ nennen zu dürfen, was ihr das Hamburger Landgericht bisher untersagt hatte. Begründet wurde die „Klage gegen einen Maulkorb“ mit dem neuesten Gutachten der Gauck-Behörde, bedeutungsschwer flankiert von einem Faksimile der Klageschrift und gruppendynamisch unterzeichnet mit „die Redaktion“.

Doch genau diese forsche Subsumtion aller 120 Redaktionsmitglieder führte zur Revolte: Denn bis auf wenige Ausnahmen wußte die Redaktion gar nichts von dem Artikel, den Geschäftsführung und Chefredaktion ins Blatt gehoben hatten. Prompt beschwerten sich viele Mitglieder der Redaktion, die zu zwei Dritteln aus dem Osten stammt, über die Vereinnahmung und verfaßten eine Erklärung, in der sie sich mit „großem Entsetzen“ von dem Artikel distanzieren. Der Betriebsratsvorsitzende Peter Venus griff gar zu ähnlichen Methoden wie die Chefredaktion und unterschrieb im Namen der Belegschaft eine Solidaritätserklärung „Rechtsstaatlichkeit für Gysi!“. Außerdem beraumte er zwecks Aussprache eine außerordentliche Redaktionsversammlung an, wurde jedoch von der Geschäftsführung belehrt, daß ihn die Angelegenheit nichts anginge, und der Beitrag im übrigen „die Meinung der Redaktion wiedergibt, so wie sie von Chefredakteur Hans Eggert als Tendenzträger unserer Zeitung festgelegt wird“.

Doch angesichts des massiven Widerstands befielen auch die Chefredaktion Zweifel, angemessen demokratisch gehandelt zu haben. Um die düpierte Belegschaft zu besänftigen, veröffentlichte man in der letzten Samstagsausgabe eben jene Solidaritätserklärung, die Gregor Gysi in Schutz nimmt – und stürzte so die LeserInnen in totale Verwirrung.

Die Leser des Neuen Deutschland hingegen sahen klar: das verbreitete nämlich, gestützt auf eine Reihe von Interna, eine Konspirationstheorie aus, nach der allein der Verlag Gruner + Jahr, der die Berliner Zeitung herausgibt, Anstifter der „Gysi-Attacke“ gewesen sei – mit dem Ziel, endlich auch im Westen Auflage zu machen: Im Verschwörerton warnte das ND den Chefredakteur der Berliner Zeitung, sich zum „Erfüllungsgehilfen“ des Hamburger Verlags zu machen, und pochte auf postsozialistische Systemtreue. Immerhin hatte es Eggert als stellvertretender Chefredakteur der Jungen Welt vor der Wende bis zum persönlichen Referenten des 1.Sekretärs der FDJ gebraucht. Die Indiskretionen im ND nahm Tendenzträger Eggert zum Anlaß, in der wöchentlichen Redaktionsversammlung nicht nur darauf zu beharren, er habe korrekt gehandelt, sondern auch nach undichten Stellen in der Redaktion zu forschen. Da seine Gegner diesmal klein beigaben, und Eggert bislang nicht fündig wurde, blieb die turbulente Woche bei der Berliner schließlich ohne Folgen. Bis auf eine: Über hundert LeserInnen haben ihr Abo gekündigt. Oliver Gehrs

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