: Halligalli auf dem Weg zum Alexanderplatz
■ 10.000 Lesben und Schwule marschieren am Christopher Street Day durch Berlin
Als Marcel, 28, am Samstag gegen zwölf Uhr am Bahnhof Schönhauser Allee in die U-Bahn steigt, sehen ihn die Leute verwundert an. Einige lachen und zwinkern ihm zu. Und genau diese Bestätigung braucht er. Denn immerhin hat er eine Woche an dem Nonnenkostüm gearbeitet, in dem er jetzt steckt: Weißes Kleid mit weißer Haube. Ganz zu schweigen von dem Aufwand, sich das Gesicht zu schminken. „Sabine hat mir geholfen“, sagt er. Sabine steht auch auf Männer und hat sich bei ihrem maskierten Busenfreund untergehakt. Sie begleitet ihn zum Christopher Street Day an den Ku'damm.
Angeführt wird der Zug gen Osten von Wagen der drei Veranstalter. Der Schwulenverband in Deutschland, Mann-O-Meter und der Sonntags-Club e.V. haben diesen 17. Berliner CSD organisiert. Er steht unter dem Motto: Flagge zeigen – Farbe bekennen. Jürgen Bienek ist CSD-Mediensprecher. „Zwei Forderungen stehen für uns im Mittelpunkt. Zum einen die rechtliche Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften und zum anderen die Erhöhung des Senatsetats für Selbsthilfeprojekte von 690.000 Mark auf 1,5 Millionen Mark.“ Die Kritik, der CSD-Marsch sei zu einer kommerziellen Parade verkommen, läßt er nicht gelten. „Uns kostet die Veranstaltung immerhin 18.000 Mark. Das sind Reinigungskosten, die Finanzierung der Bühne am Alex und Künstlerhonorare.“ Und dieses Geld erwirtschafte man einzig durch eine 1.000 Mark hohe Wagengebühr von Kneipen, die Getränke verkaufen. Daß diese Kneipen auch für sich werben, hält Bienek für legitim. Und was die politischen Differenzen betrifft: „Es ist absurd, daß wir die Angepaßten und die anderen die Revolutionäre sein sollen, nur weil sie radikalere Parolen für die Ziele finden. Politik soll Spaß machen.“
Der Zug der Zehntausend passiert die Philharmonie in Richtung Brandenburger Tor. Die vielen Ku'damm-Bummler am Straßenrand wurden mittlerweile ersetzt durch Christo-Pilger. Zwischen den Umzugswagen vom Café PositHiv, von Radio Kiss FM oder der CSD-Mission tanzen sie umher, egal ob ABBA oder ein Housemix aus den 1.000-Watt-Boxen strömt. Sie trinken Sekt aus Flaschen und exekutieren Zuschauer und Marschierende pausenlos mit Wasserpistolen. Ein Lehrerehepaar in diesem Gemenge nennt seine Motivation, mitzumarschieren: „Weil es toll ist!“ Augenblicke später wird es etwas präziser. Dann deutet die Mutter auf den Grund ihrer Anteilnahme. „Und außerdem läuft da vorn unser Sohn mit.“
„Da vorn“ ist inzwischen das Ziel – man ist am Alex. Ingrid Stahmer, Bürgermeisterkandidatin der SPD für den Oktober, betritt das Podium der Abschlußkundgebung – ohne Trillerpfeife. Dafür in einem ihrer recht unprätentiösen Kostüme. Und sie ist verwundert über die Pfiffe, die ihrer Rede gewidmet sind. „Wie man's macht ... “, mag sie gedacht haben. Des Eindrucks parteipolitisch motivierter Einverleibung konnten sich die meisten wohl nicht erwehren. Und so verabredeten sich die einen schon mal für die Abschlußparty in der Kulturbrauerei, die anderen fürs Tempodrom. Oder fürs Plush, oder die Busche, oder ... Olaf Kosert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen