■ Ginge ein Boykott französischer Waren nach hinten los?: La Grande Nation
Im April 1986 besorgte die Franzosen weniger der atomare Fallout von Tschernobyl, statt dessen kicherten sie über die deutschen Hysteriker. Im Fernsehen wurden zwei saftige französische Salatköpfe gezeigt. Der deutsche Salat war als giftig gestempelt, der französische von der Atomstreitmacht und den gläubigen Nuklearenergetikern als gefahrlos verzehrbar befunden worden – oder hat irgend jemand Caesium geschmeckt? Wenige Monate später lag sich die Nation in den Armen. Lachend verkündeten Nachrichtensprecher die Befreiung französischer Gefangener. Gemeint waren die beiden Bombenleger im Dienste des französischen Staates. Sie hatten in Neuseeland das Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrior“ samt Besatzung in die Luft gesprengt. Fast keiner wollte das Freudenfest stören und etwa von Mord sprechen.
Knapp zehn Jahre später läßt sich mit Umweltthemen in Frankreich immer noch jede Wahl verlieren. Alles, was dem seit Jahren erfolglos herbeischwadronierten Wirtschaftsaufschwung schaden könnte, gehört verboten. Modernisierung muß wohl sein, aber bitte ohne Modernität. Und da Modernisierung bekanntlich hohe seelische Unkosten verursacht, ist es wichtig, „Remedur“ im Gepack zu haben: Auf den Gesang von „La Grande Nation“ versteht sich auch Chirac so gut, weil es nach wie vor blendend ankommt. Die „nationalen Interessen“ haben ein Doppelgesicht: wirtschaftlich und identifikatorisch.
Falls Greenpeace jetzt zu einem internationalen Boykott französischer Waren aufrufen sollte, kann der Schuß auch nach hinten losgehen. Der innenpolitische Konflikt kann schnell einem nationalen Schulterschluß weichen, den französische Politiker aller Couleur wunderbar zu instrumentieren verstehen. Frankreich sieht sich gerne als Opfer einer internationalen Verschwörung, und die Glut der EG-Feindschaft schwelt ohnehin weiter vor sich hin. Ein internationaler Boykott gegen französische Waren könnte in Frankreich also gewisse fundamentalistische Züge betonieren. Oder könnte er im Gegenteil für einen hochbedeutsamen Paradigmenwechsel sorgen?
Sorgen machen muß man sich auch um manchen deutschen Weltenretter. Irgendwo in der Tiefe des Boykotts schlummert ein Appell an den Fundamentalismus. Man muß nicht gleich an den von den Nazis gewünschten Boykott gegen jüdische Geschäfte denken. Aber wenn manche Eiferer beim Kampf gegen die Muschel-Firma gleich Tankstellen anzünden wollen und mit Bomben drohen, dann „reitet der Volkszorn mal wieder“. Und wieviel mehr Giftstoffe kommen hoch, wenn die ganz Gerechten ihre Reinheit im Namen der guten Sache gegen die bösen Franzosen zelebrieren? Dann kommt auch bald jede Rainbow Warrior zu spät. Walter van Rossum
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