: Wann beginnt der nächste Krieg?
In Tschetschenien scheint sich ein Ende des Krieges anzubahnen – seine Ursachen sind damit jedoch noch nicht beseitigt: Der Machtkampf in und um den Kreml geht weiter ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Überraschend und unerwartet, geradezu verblüffend. Anders läßt es sich nicht bezeichnen, was in Rußland vor sich geht. Noch am Vorabend bis auf den Tod verfeindet, sitzen die Kriegsparteien am Verhandlungstisch und erzielen Kompromisse, die bereits in Kürze einen tragfähigen Frieden bescheren könnten. Hinzu kommt: Dies alles geschieht in Windeseile und – wie es scheint – in einer Atmosphäre unbedingter Entschlossenheit, die für die Empfindlichkeiten der anderen Seite sogar Verständnis aufbringt.
Nachdem der Waffenstillstand seit rund einer Woche weitgehend eingehalten wird, boten die Tschetschenen den Russen am Wochenende einen Teil ihres schweren Kriegsgerätes zur Verschrottung an, die von Moskau inthronisierte Marionettenregierung in Grosny signalisierte Bereitschaft zum Rücktritt, sollte gleichzeitig der untergetauchte Präsident Dudajew auf sein Amt verzichten. Und: Gestern traf sich – so meldeten das zumindest die russischen Nachrichtenagenturen – zum erstenmal seit Kriegsbeginn ein höherer russischer Politiker mit Dudajew. Aufgabe von Arkadij Wolski war es, den Präsidenten zum Rücktritt zu bewegen, ansonsten sollte er Rußland verlassen. Neuwahlen werden anvisiert, während die Frage der staatlichen Souveränität noch nicht auf die Tagesordnung gelangte. Strittige Punkte sollen erst nach einem Rahmenabkommen, das den Frieden garantiert, verhandelt werden.
Woher dieser plötzliche Sinneswandel? Hat die Geiselnehmeraffäre von Budjonnowsk Rußlands Führung von der Unsinnigkeit ihres Feldzuges endlich überzeugt? Wohl kaum. Sollte der Konflikt im Kaukausus beigelegt werden, verlagern sich die Kämpfe auf die Korridore des Kreml. Die Entlassung der beiden „Machtminister“ am Freitag belegen die strategische Schlappe, die die „Partei des Krieges“ im Kreml vorübergehend hat einstecken müssen. Noch bleibt einer der Oberhalunken im Amt. Verteidigungsminister Pawel Gratschow, den Präsident Jelzin bis dato nicht opfern will. Die Entlassung der beiden Minister folgte rein taktischem Kalkül, denn sie verändert zunächst nichts an der Machtverteilung zwischen den Interessenlobbys am Roten Platz. Präsident Jelzin war fest in den Fängen der „Partei des Krieges“, hinter der Militärs und Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes stehen. Ihnen sollte der Feldzug dazu dienen, die Remilitarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. Ideologisch hüllten sie sich entsprechend in abgewetzte Gewänder nationalistischer Propaganda. Als Mittler zwischen Präsident und Waffenproduzenten wirkte Alexander Korschakow, Leibwächter und Saufkumpan Jelzins, der nicht mehr nur das leibliche Wohl seines Herrn im Auge hat. Jelzins sinkender Stern in der Wählergunst alarmierte Korschakow, der mit einer Offensive antwortete und die Leibgarde seines Patrons aufstockte. Dann schickte er sie gegen unliebsame Konkurrenten. So geschehen im November und Dezember letzten Jahren, just zum Auftakt des Kaukasusfeldzugs. Opfer war der Direktor der einflußreichen Mostbank in Moskau. Er verkörpert die neue Macht der Banken und des Handels.
Als Lobbyist der Energiewirtschaft, die über zwei Drittel des russischen Exporterlöses einspielt, gehört auch Premierminister Viktor Tschernomyrdin in jenes Interessenkartell. Der staatliche Konzern Gasprom, den er über Jahre leitete, lebt von Westkontakten, an einer Verschlechterung der Beziehungen kann er kein Interesse haben. Als Tschernomyrdin im Dezember den Wünschen der Weltbank folgte und die Exportquoten freigab, funkte Korschakow dazwischen. Jeder zusätzliche Kubikmeter Gas und Öl für den Export geht seiner Klientel verloren und drückt die Kosten in Richtung Weltmarktpreis. Bereits im Januar hatte Tschernomyrdin für eine friedliche Lösung in Tschetschenien plädiert, wurde aber von Jelzin zurückgepfiffen. Nach dem kläglichen Versagen der Sicherheitskräfte in Budjonnowsk nutzt er seine Chance. Siebzig Prozent der Russen befürworten die von ihm gewählte friedliche Lösung. Anfang Mai gründete Tschernomyrdin eine Partei „Unser Haus Rußland“, der führende Kräfte aus den Provinzen, den Großkonzernen und der Privatwirtschaft angehören, daneben auch Minister seiner Regierung. Ihre Wahlchancen stehen nicht schlecht, zumal die Wähler in den Provinzen bevorzugt bekannten Autoritäten ihre Stimme leihen.
Die „Partei des Krieges“ weiß hingegen, daß sie nur mit Jelzin überleben kann. Gratschow und der Vorsitzender des Sicherheitsrates, Oleg Lobow, der der japanischen Sekte Aum in Rußland unverständliche Freiräume eröffnete, entgehen einer Strafverfolgung nur, solange der Chef seine schützende Hand über sie hält. In Tschetschenien und in der Öffentlichkeit haben sie eine Niederlage hinnehmen müssen, sie werden dennoch weiter kämpfen. Mit der Entlassung der „Machtminister“ bewegt sich Jelzin auf dem dünnen Eis eines Kompromisses. Sich aus den Klauen der Kriegspartei zu lösen, dürfte ihm schwerfallen, selbst wenn er es wollte. Die Öffentlichkeit wird es ihm ohnehin nicht honorieren. Über kurz oder lang zieht in Tschetschenien der Friede ein. Man darf gespannt sein, welchen neuen Schauplatz sich die Kriegstreiber aussuchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen