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Abhängigkeiten anerkennen

■ Die Literaturwissenschaftlerin Andrea Günter über die Schwierigkeiten deutscher Frauen, die Rezeption der Mutter-Tochter-Beziehung im italienischen Feminismus zu verstehen

taz: Abgesehen von dem von Ihnen mit herausgegebenen Buch ist es in letzter Zeit etwas still geworden um die feministische Philosophie, die vom Mailänder Frauenbuchladen und der Veroneser Diotima-Gruppe entwickelt wurde. Ist der Nachwuchs ausgeblieben?

Andrea Günter: Das ist schwer zu beurteilen. Unser größtes Problem ist, daß so wenig übersetzt worden ist. Die vier Bücher, die Diotima inzwischen gemacht hat, sind hier noch nicht mal vom Titel bekannt. Die Diotima-Theorie wird hierzulande also auf dem Stand von vor zwölf Jahren diskutiert. Die deutschen Verlage sagen, sie hätten kein Geld für Übersetzungen aus dem Italienischen. Wahrscheinlich muß Diotima, wie zuvor Luce Irigaray und andere Französinnen, über die USA zu uns kommen. Auf der anderen Seite kenne ich Frauengruppen in vielen Orten, die kontinuierlich an dieser Theorie arbeiten, und auch in der Erwachsenenbildung wird das Thema immer wichtiger.

Wie wird denn die Theorie in der Erwachsenenbildung aufgenommen?

Ambivalent. Einerseits sind die Frauen fasziniert und merken, da ist etwas, was ihnen sehr viel verspricht, was sie aber noch nicht so ganz verstehen. Andererseits haben sie starke Widerstände, weibliche Autorität und die Mutter als zentrale symbolische Figur anzuerkennen.

Was steht für Sie im Zentrum der Diotima-Theorie?

Als ich das erste Buch, „Wie weibliche Freiheit entsteht“, gelesen habe, hatte ich das Gefühl einer Befreiung. Mein Realitätsbewußtsein hat sich dadurch sehr verschärft, weil ich Beziehungsstrukturen in bestimmten Situationen viel besser erkennen kann. Im „gelben Katalog“ zum Beispiel haben die Mailänderinnen ihre Lektüreerfahrungen mit Schriftstellerinnen dokumentiert. Diese Fähigkeit, unscheinbare Veränderungen und Verschiebungen wahrzunehmen und daraus eine Theorie zu machen, fasziniert mich.

Warum aber ist diese Theorie, in der deutschen Frauenbewegung so wenig und so falsch rezipiert worden? Nehmen die Italienerinnen das Wort „Differenz“ mit größerer Leichtigkeit in den Mund, während es in Deutschland gleich bleischwere Grundsatzfragen auslöst?

Das ist ein Punkt. Der zweite ist, daß in Deutschland inzwischen alles unter den Begriff Geschlechterdifferenz fällt. Christa Mullack genauso wie die Italienerinnen. Diese reden seit einiger Zeit darüber, daß sie dafür endlich einen neuen Begriff brauchen. Die Mailänderinnen haben das, was sie machen, von Anfang an nicht Geschlechterdifferenz genannt, sondern Politik der Beziehungen unter Frauen. Die deutschen Frauen haben sich im Unterschied zu den Italienerinnen zu sehr auf die theoretische Diskussion geworfen, die Praxis und ihre Strukturen – Männerbeziehungen, Frauenbeziehungen als Entstehungsorte von Theorie und Praxis – nie richtig in den Blick genommen. Ein weiterer Punkt ist, daß die deutsche Frauenbewegung aus der Selbsterfahrung entstanden ist, die italienische nicht. Daß diese Theorie hierzulande unter dem Schlagwort „affidamento“ rezipiert wurde, ist dafür typisch und gibt zu Mißverständnissen Anlaß: Frauenbeziehungen werden als gegenseitige Selbstbestätigung verstanden. Dabei sind sie ein Weg der Auseinandersetzung. Aber hier stößt es auf große Empfindlichkeit, eine andere Frau zu beurteilen. Das halten viele Frauen nicht aus. Abhängigkeiten anzuerkennen, das wird als Provokation empfunden.

Hängt das vielleicht auch mit der unterschiedlichen Stellung der Mutter in Italien und Deutschland zusammen? Die italienische Mama ist ja eine starke Person.

Das ist ein wichtiger Teil. Außerdem: Die italienische Familie war immer ins öffentliche Leben eingebunden, hierzulande aber gehört sie zum privaten Rückzugsbereich, und „die Mutter“ wird als Inkarnation des Unpolitischen begriffen, was ihre symbolische Bedeutsamkeit und deren politische Relevanz blockiert.

Unsere Mütter, die als Jungmädels noch dem Führer zugejubelt haben, waren ja auch keine besonders positiven Figuren.

Wir Deutschen haben sicher ein spezielles Verhältnis zur Mutter aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit. Aber das Problem sind nicht die negativen Erfahrungen mit der eigenen Mutter, sondern unser Umgang damit. Die Diotima-Theorie kann uns davor bewahren, uns und unsere Mütter mit deutscher Gründlichkeit zu zerfleischen.

Die Differenztheorie ist auch auf ethnische Minderheiten anwendbar: Schwarze beziehen sich dann nur noch auf Schwarze, Hispanos auf Hispanas und so weiter. Besteht hier nicht die Gefahr, daß die Gesellschaft in separate Ghettos auseinanderfällt?

Der Vorwurf des Separatismus verwundert mich immer. Für mich ist das keine separatistische Theorie. Wenn wir Beziehungen als Vermittlungssysteme betrachten, dann sind Frauenbeziehungen Orientierungspunkt und Maßstab, wie ich mich zu allem verhalte. Sie sind eine Orientierung, die mir hilft, mich auch und gerade Männern gegenüber zu verhalten und mich nicht von ihnen zu trennen. Das betrifft auch das Verhältnis zu anderen ethnischen Gruppen. Was hier meines Erachtens immer wieder geklärt werden muß, ist, wer welchen Erkenntnisvorsprung aufgrund einer bestimmten gesellschaftlichen Position hat. So müssen weiße, mittelständische Frauen den Erkenntnisvorsprung anerkennen, den Frauen aus anderen Ethnien oder anderen sozialen Gruppen haben.

Claudia Bernadotti wirft Diotima in der letzten Ausgabe der „Zeitschrift für Frauenforschung“ die Nähe zum Kommunitarismus und Relativismus vor.

Das ist auch ein deutsches Problem, daß solche Begriffe wie Universalismus, Essentialismus oder Relativismus zu Schlagworten wurden. Susanne Kappeler zum Beispiel wirft Barbara Duden vor, sie sei biologistisch, obwohl sie über die Geschichte des Körperbewußtseins arbeitet. So was Ähnliches passiert auch mit dem Vorwurf des Relativismus. Es ist ja ein anerkanntes Ergebnis der feministischen Kritik, daß universelles Denken, wie bisher ausgeübt, die Erfahrung von Frauen nicht zur Sprache bringt. Die Alternative ist kontextuelles Denken, in dem Frauen von ihren Erfahrungen ausgehen. Das ist nicht gleich relativ, denn Erfahrungen in einem Kontext können Maßstab für andere sein, sie sind nicht beliebig. Unser Denkmodell ist weder universalistisch noch relativistisch, sondern kontextbezogen. Interview: Ute Scheub

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