: Gemeinsam in Europa
Bei Kohls Polenbesuch ist Normalität das Besondere /Nato- und EU-Mitgliedschaft bis 2000 ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
„Helmut der Große“, titelte eine Warschauer Tageszeitung. „Ein Kanzler wie eine deutsche Eiche“, „Der gute Nachbar Kohl“, „Zerstreuung der polnischen Ängste“, „Deutschland zusammen mit Polen“, „Der europäische Impuls“ andere Blätter. – Die Rede des Bundeskanzlers vor dem polnischen Sejm ließ Polen aufatmen.
Vor dem heute zu Ende gehenden dreitägigen Besuch des Kanzlers in Polen waren die Erwartungen an den „großen Staatsmann“ ins Unermeßliche gestiegen. Eine Zeitung veröffentlichte gar eine „Liste der polnischen Wünsche“. Zugleich war auch die Angst gewachsen, daß all diese Wünsche nur ein Luftschloß sein könnten, das der Kanzler in eine ärmliche Hütte zurückverwandeln würde. So tat die Regierung unter Jozef Oleksy, dem seit Februar amtierenden Ministerpräsidenten aus dem Bündnis der Demokratischen Linken, alles für eine politische Schönwetterlage.
Schon die Tatsache, daß Kohl überhaupt vor beiden Häusern des Parlaments sprechen durfte, ist eine außerordentliche Geste, eine bewußte Demonstration der Verständigungsbereitschaft. Diese Ehre war zuvor noch keinem ausländischem Regierungschef zugestanden worden. Wochen vor dem Besuch hatte es noch heftigen Streit gegeben. Die Tradition, die allein Staatschefs und Parlamentsvorsitzenden die Ehre vorbehielt, vor den Sejm-Abgeordneten und den Senatoren zu sprechen, sollte gewahrt werden. Daß der Ältestenrat dann doch eine Ausnahme machte, zeigt, wie wichtig Kohls Besuch auch für den Sejm ist.
Kein Wort zu Frankfurt an der Oder
„Gemeinsam in Europa“, so stellte sich Jozef Oleksy das Motto des Besuches vor. Und der Kanzler ging darauf ein. „Das Besondere am jetzigen Besuch ist“, so Kohl in seiner Rede vor dem Sejm, „daß er hier und in meinem Land schon als ein Stück Normalität aufgefaßt wird.“ Dies zeige besser als vieles andere, welche Wegstrecke Deutschland und Polen bereits gemeinsam zurückgelegt hätten. „Es ist mein Wunsch, daß in einer sehr nahen Zukunft, und unter naher Zukunft verstehe ich dieses Jahrzehnt, Polen seinen Weg in die EU und sein Sicherheitsbedürfnis in der Nato erfüllt sieht.“ Kohl wußte: Das war die Sensation des Tages. Er befürwortete den Beitritt Polens zu EU und Nato bis zum Jahr 2000.
Die Stimmen der Kommentatoren zeigen, daß sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen tatsächlich verändert hat. Kritik an Polen, die Kohl ebenfalls unmißverständlich, aber doch vorsichtig formuliert, wird wie selbstverständlich angenommen und diskutiert. Das gilt nicht nur für zum Teil irrealistische Erwartungen an andere – Kohl hatte betont, daß der Beitritt Polens zu EU und Nato in erster Linie von Polen selbst abhänge –, sondern auch für historische Assoziationen. Kohl erwähnte mit keinem Wort die Vorfälle in Frankfurt (Oder), wo vor einer guten Woche 250 arbeitsuchende Polen unrechtmäßig verhaftet und ausgewiesen worden waren. In Polen war daraufhin das Bild des häßlichen Deutschen wieder aufgetaucht. Nachdem aber von deutscher Seite der Fehler eingestanden worden war, die Ausweisungen aus den Pässen getilgt wurden und sich einige hohe Politiker offiziell entschuldigt hatten, betrachteten deutsche wie polnische Politiker den Skandal für weitgehend bereinigt. Auch in den Medien spielt der Vorfall von Frankfurt keine Rolle mehr. Nur der Sejmmarschall Jozef Zych meinte, daß es gut wäre, wenn der Kanzler in Polen noch einmal kurz zu dem Vorfall Stellung nehmen würde.
Kritische Stimmen fehlen fast völlig. Höchstens, daß hier und da einmal angemerkt wird, daß Kohl eigentlich nicht viel Neues verraten habe und den schönen Worten nun auch Taten folgen müßten. Die kleineren Probleme aber, die es im beiderseitigen Verhältnis nach wie vor gibt, wurden nur angerissen und verbleiben den Diplomaten als künftige Hausaufgaben.
Siehe auch Seite 7
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