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84 Tage Arrest für Totalverweigerung

Der 23jährige Maurergeselle Lothar Lehmann aus Cottbus sprengte mit seiner Haftdauer alle Bundeswehrrekorde / Ein Bericht über das Leben in der Zelle und die Zukunft danach  ■ Aus Berlin Ole Schulz

Müde und ausgelaugt sieht Lothar Lehmann aus. „Ich muß erst wieder lebendig werden“, stöhnt er. Zwar wurde der 23jährige Totalverweigerer vor einer Woche aus dem Bundeswehrarrest entlassen, doch frei bewegen kann er sich noch immer nicht. Er steht unter Hausarrest. Für seine Vorgesetzten darf er nicht länger als drei Stunden unerreichbar sein.

Am 10. April traf der junge Mann mit dreimonatiger Verspätung bei der Kaserne in Blankenfelde bei Berlin ein. Er stand vor einem verdutzten Hauptmann des Fernmeldebataillons 430. Der wollte ihn über Pünktlichkeit, über die Rechte und Pflichten eines Bundeswehrsoldaten belehren. Aber davon wollte Lothar Lehmann nichts hören. „Ich bin kein Soldat“, erklärte er lapidar. Er weigerte sich partout, „eine Uniform anzuziehen“ und „seine Haare schneiden zu lassen“, hielten die Bundeswehrprotokolle fest. Das Truppendienstgericht in Potsdam verhängte vier mal 21 Tage Disziplinararrest über den Widerspenstigen. Lehmann brach damit Rekorde. Er ist der erste Totalverweigerer im vereinigten Deutschland, der mehr als 63 Tage in Haft kam. Bislang hatte sich die Bundeswehr an dieses seit 25 Jahren bestehende „Übermaßverbot“ des Bundesverfassungsgerichtes gehalten. Lothar Lehmann wurde in eine Zelle im Wachgebäude der Kaserne gesteckt. Drei mal drei Meter, die Einrichtung spartanisch. An der Wand ein metallenes Klappbett, dazu ein Tisch und ein Stuhl. Das vergitterte Fenster, nur 85 mal 35 Zentimeter groß, mußte er verschlossen halten, „wegen Suizidgefahr“.

Aber Ärger ist der junge Mann gewohnt. Früher waren es die Haare, diese dunklen, langen Strähnen, die er sich auch nicht vom Bataillonsfriseur hatte stutzen lassen wollen. Mit dieser Haarpracht war er schon in Cottbus aufgefallen, wo er 1990 eine Maurerlehre begonnen hatte. Ständig wurde er von gelangweilten Halbstarken angemacht, oft auch verprügelt. Das Faustrecht der Stärkeren kannte er aus der Schule. Er galt als Außenseiter, und „die Schwächeren kriegen eben die Schläge ab.“ So wuchs seine Abneigung gegen Gewalt, erklärt er heute. Mit dem Ende der Ost- West-Konfrontation stand für Lehmann dann eines fest: Es gab keine Rechtfertigung mehr für eine Armee auf deutschem Boden. Auch den Zivildienst lehnte er ab – als „Teil des militärischen Zwangssystems“. Lehmann ist keiner, der viel redet. Doch die Erinnerung an den Knast ist ihm präsent. So sei er „korrekt aber hart behandelt worden. Laut Vorschrift mußte ihm täglich „über eine Stunde Ausgang“ gewährt werden. Die pflichtbeflissenen Wachhabenden ließen ihn sogar zehn Minuten länger auf dem Hof herumlaufen. Gelangweilt habe er sich nicht: „Ich habe gelesen, gedichtet, gesungen, getrommelt oder einfach abgeschaltet.“ Positiv auch die Erfahrung, daß viele der einfachen Wehrdienstler seine Entscheidung akzeptierten. Ja mehr noch, einer gab zu: „Beim Antritt habe ich mein Gehirn abgegeben, das eine Jahr reiß' ich jetzt runter.“ Allein der diensthabende Kommandant habe sich über seine Hartnäckigkeit geärgert und ihm das Leben mit kleinlichen Bestimmungen schwer gemacht. Die Kontaktsperre wurde verschärft, selbst Anrufe des Vaters erreichten ihn nicht. „Sie haben diesen Weg gewählt, da müssen sie jetzt durch“, war der einzige Kommentar des Kommandanten.

Richtig schlecht ging es dem Totalverweigerer aber nur, als die vierte Arreststrafe verkündet wurde. Da war die Anfangseuphorie des Widerstands verflogen. Für zwei Wochen trat er in den Hungerstreik. Die Besuche am Sonntag und Briefe von Freunden halfen ihm, diese Tage zu überstehen. Am 3. Juli wurde der Rebell endlich entlassen. Er gefährde „die Disziplin der Truppe, das Ansehen der Bundeswehr und die öffentliche Sicherheit und Ordnung“, heißt es heute in der Begründung. „Der Oberstleutnant glaubt ja sogar, ich werde von fremden Mächten ferngesteuert“, amüsiert sich Lothar Lehmann über die soldatischen Tugenden.

Was hat er jetzt vor? Seit drei Jahren wohnt er in einem besetzten Haus in Lacoma bei Cottbus und arbeitet für Ökoprojekte. Falls eine Anklage wegen „Befehlsverweigerung" nicht dazwischenkommt, möchte Lothar im Herbst auf den Philippinen beim Aufbau einer Windkraftanlage helfen.

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