piwik no script img

Menschenjagd in Serbien. Seit vier Wochen werden serbische Flüchtlinge aus Bosnien und Kroatien, die vorm Krieg nach Rest-Jugoslawien geflüchtet sind, von der Belgrader Polizei ausgehoben und „Karadžić zurückgegeben“ Von Rüdiger Rossig

Milošević sucht Kanonenfutter

Seit über zehn Tagen hat Zoran sein Zimmer nicht mehr verlassen. Er hat Angst. „Sogar die UNO warnt davor, auf die Straße zu gehen“, erklärt der 23jährige Student, „ich bin nicht angemeldet, also sucht mich hier auch niemand. Aber in der Stadt kannst Du jederzeit in eine Polizeikontrolle laufen, die nehmen Dich mit, stecken Dich in eine Uniform – und ein paar Tage später bist Du irgendwo, wo es knallt.“ Zoran weiß, wovon er redet. Vor zwei Jahren wurde der Sohn einer serbischen Familie aus der nordostbosnischen Kleinstadt Prijedor zur Armee des bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić eingezogen. „Ich hatte irres Glück“, sagt er heute, „meine Einheit kam nie richtig zum Einsatz, und mich haben sie unglaublich schnell wieder laufen lassen.“

Trotzdem ist Zoran seitdem sicher: Er will nie wieder zum Militär. Kurz nach Ende seines Militärdienstes verließ er Bosnien und ging nach Belgrad. Zoran hatte gehofft, in der Zwei- Millionen-Metropole untertauchen zu können. In Serbien gibt es nach wie vor keinen Krieg. Und wie viele der rund 500.000 SerbInnen, die Kroatien und Bosnien- Herzegowina seit Beginn des Krieges in Richtung Rest-Jugoslawien verlassen haben, träumte Zoran davon, nach dem Abschluß seines Elektrotechnikstudiums ein neues Leben anzufangen – im Ausland. Nach Angaben westlicher Botschaften in Belgrad haben seit Beginn dieses Jahres 50.000 Antrag auf Visa gestellt.

Auch Zoran wollte längst einen Paß beantragt haben. „Das kann ich jetzt vergessen“, sagt der 23jährige, „wenn ich bei der Polizei auftauche, behalten die mich gleich da.“ Zorans Angst ist begründet. Die serbische Polizei treibt seit drei Wochen eine regelrechte Hatz auf Flüchtlinge in wehrfähigem Alter. Die Aktion wurde offensichtlich von langer Hand geplant: Im März waren die Flüchtlinge in Rest-Jugoslawien zum wiederholten Male aufgefordert worden, sich registrieren zu lassen.

Am 11. Juni verhaftete die serbische Polizei die ersten „Wehrpflichtigen“ – einen Tag, nachdem Karadžić erneut eine Generalmobilmachung für die serbisch besetzten siebzig Prozent Bosniens angeordnet und die „Landsleute“ in Rest-Jugoslawien aufgefordert hatte, ihm „ihre“ Flüchtlinge „zurückzugeben“. In der Redaktion des unabhängigen Belgrader Nachrichtenmagazins Vreme haben sich seit Beginn der Mobilisierungen Hunderte von Flüchtlingen gemeldet. Meist sind es Freunde oder Verwandte von bosnischen und kroatischen Serben, die verhaftet, an die bosnische oder kroatische Grenze gefahren und den dortigen serbischen Behörden übergeben worden waren.

„Sie verhaften die Leute auf der Straße, in Cafés oder auch in ihren Wohungen“, so Vreme-Reakteur Miloš Vasić. Nach Angaben des Sprechers des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) in Belgrad, Ron Redmond, gehen dort seit Wochen täglich über hundert Anrufe von verängstigten Flüchtlingen ein. Die UNO hat bereits am 22. Juni gegen die Zwangsmobilisierungen protestiert und dem rest-jugoslawischen Außenministerium mitgeteilt, die Aktion verstoße gegen die UN-Flüchtlingskonvention von 1951. Die rest-jugoslawischen Behörden verweigern bis heute eine Stellungnahme. Immerhin ist mittlerweile sicher, daß die Zwangsmobilisierungen vom Innenministerium koordiniert werden.

Tatsächlich ist die Hatz auf die Deserteure die erste gemeinsame Aktion von „Ordnungshütern“ aller „serbischen Länder“. Der eigentlich zuständige „Beauftragte für Flüchtlingsfragen der Republik Serbien“ wurde nicht einmal informiert. Der Schwerpunkt der Menschenjagd liegt in der nord-serbischen Vojvodina. Der Reichtum der Region hat viele Flüchtlinge angezogen. Seit Wochen werden dort Menschen von der Polizei kontrolliert, zum Teil mehrmals täglich.

Die Beamten identifizieren die Flüchtlinge anhand ihrer Personalausweise – über Geburtsort des Inhabers und Ausstellungsort, die auf jeder der hemdtaschengroßen Plastikkarten vermerkt sind. So wiesen die Buchstaben RH (Republika Hrvatska, Republik Kroatien) im alten Jugoslawien auf einen Wohnort in Kroatien hin; heute steht RSK für „Republik serbische Krajina“ und RS für die „Serbische Republik“ in Bosnien.

Doch damit nicht genug – die Polizei kommt auch nach Hause: Bei dem 18jährigen Velimir Stanić in Novi Sad zum Beispiel. Kurz vor seinem Schulabschluß wurde der in Bosnien geborene Serbe abgeholt. Ein paar Tage später sahen ihn seine Eltern zum vorerst letzten Mal wieder – in Uniform. Dann wurde der Schüler fortgebracht – wohin, weiß niemand.

In der Oberschule von Kikinda kam die Polzei gleich zur Abschlußfeier – drei Schüler kamen von dem Fest am 14. Juni im Hotel „Narvik“ nicht zurück. Es ist unklar, nach welchen Kriterien die Staatsmacht vorgeht. Gerüchteweise heißt es, die Polizei der Karadžić-Republik habe Listen mit den Adressen der registrierten Flüchtlinge von ihren Belgrader Kollegen erhalten. Dagegen spricht, daß keineswegs nur in den bekannten Flüchtlingslagern mobilisiert wird. Die Polizei weiß viel zu gut, daß dort vor allem diejenigen leben, die zu alt oder schwach sind, um sich selbst zu versorgen.

Die meisten der jungen Flüchtlinge dagegen wohnen privat und haben sich nicht polizeilich gemeldet – wohl wissend, daß sie in Serbien nur geduldet sind. Für die Polizei ist diese Personengruppe somit oft nur außerhalb ihrer Wohnungen greifbar – auf dem Weg zur (Schwarz-)Arbeit, zum Markt, zur Schule oder zur Universität. Zudem haben sich viele Flüchtlinge in den letzten Jahren mit rest-jugoslawischen Papieren versorgt. Unter anderem deshalb kommt es immer wieder zu Unregelmäßigkeiten bei den Aktionen des Milošević-Regimes. Die Beamten, die am Montag vor drei Wochen morgens um sechs Uhr an die Haustür der Familie Drlica in Hrtkovci klopften, trugen Uniformen der Miliz der „Serbischen Republik Krajina“ – ein klarer Rechtsbruch, nach den Gesetzen der Republik Serbien dürfen fremde Polizeieinheiten dort gar nicht operieren.

Abgesehen davon ist der Hausherr, den die Polizisten nach einem kurzen Gespräch mitnahmen, kein Flüchtling, sondern serbischer Staatsbürger. „Ich habe versucht, ihnen zu erklären, daß ich nur zufällig in Kroatien geboren bin“, so Drlica in der letzten Ausgabe der Vreme, „sie haben geantwortet, ich solle das den Leuten in der Kaserne erzählen.“

Doch im Sammelzentrum von Sremska Mitrovica nahe der bosnischen Grenze wollte niemand Drlicas Geschichte hören. „Irgendwann bin ich ausgeflippt“, so der Zwangsmoblisierte weiter, „da haben sie geschossen.“ Drlica entging knapp einer Amputation beider Beine. Sein Arzt sagt, er habe gute Chancen, in einem Jahr wieder laufen zu können. Immerhin: Der Einsatz an der Front blieb dem 25jährigen erspart. Die rund 6.000 Flüchtlinge, die bisher von der Milošević-Polizei über die bosnische oder kroatische Grenze gebracht wurden, mußten nach Berichten aus Belgrad allesamt ein Papier unterschreiben, wonach sie sich „freiwillig“ zum Militär gemeldet hätten.

Danach ging es in allen bekannten Fällen im Eilverfahren ab an die Front. Aus dem Hauptquartier der bosnischen Serben in Pale hieß es Ende letzter Woche, siebzig Männer seien im Schlafanzug und Hausschuhen angekommen, in Uniformen gesteckt und abgefahren worden. Insgesamt fünfzig Busladungen voller Zwangsmobilisierter haben nach Angaben aus Belgrad bis heute das Sammelzentrum Sremska Mitrovica in Richtung Bosnien und Kroatien verlassen.

In Flüchtlingskreisen heißt es, die dortigen serbischen Armeen hätten Strafbataillione für die Ex- Deserteure gebildet. Doch wie und wo die Verhafteten eingesetzt werden, ist kaum bekannt: Die „Freiwilligen“ dürfen ihre Angehörigen meist nicht informieren.

Ein Ende der Zwangsmobilisierungen ist nicht abzusehen: Noch am Freitag vermeldete die regimekritische Belgrader Tageszeitung Naša Borba, ab Anfang dieser Woche seien Uzice und Ćaćak dran. An die in den beiden Vojvodina-Orten lebenden Deserteure erging von seiten der gemäßigt-nationalistischen „Serbischen Erneuerungsbewegung“ SPO der Aufruf, sich zu verstecken.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen