Mit Gummiband die Vokallänge messen

Schreiben lernen als Zugang zur normalen Welt / Seit 1977 lernen Erwachsene bei AOB lesen / Analphabetismus wurde in der DDR ausgeblendet / Mit der Wende kam der Zwang, sich neu zurechtzufinden  ■ Von Inge Braun

Andreas wippt mit dem Stuhl, faltet seine Hände zusammen und verschränkt sie hinter dem Kopf. Dann spielt er mit seiner Dose Sprite, kratzt sich an der Schläfe. Als er angesprochen wird, dreht er den Kopf zur Seite, versteckt sich. Bis er schließlich doch aufspringt und schwungvoll ein riesiges S und P an die Tafel schreibt. „Spülen, spielen, spazieren“ steht an der anderen Schiefertafel, von der die Farbe absplittert. Der Leseschreibkurs hat vor einer halben Stunde begonnen.

Der Weg hierher führt durch zwei Innenhöfe eines typischen Kreuzberger Gewerbehofes der Gründerzeit mit Backsteinarchitektur, vorbei an Fahrrädern, Schubkarren und Holzbänken. Hier im Mehringhof befindet sich im zweiten Hinterhof der Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB).

Seit 1977 führt der Verein Alphabetisierungskurse für Erwachsene durch. Damals leistete der AOB Pionierarbeit. Zum ersten Mal wurden in Deutschland Leseschreibkurse konzipiert und eingerichtet. Auf engstem Raum tagt jede Lerngruppe zweimal in der Woche, meist abends. Parallel dazu finden lernunterstützende psychologische Beratungen für die Teilnehmer statt.

Es ist kurz vor sieben. Aus einem der Räume dringt schallendes Gelächter. Das Mobiliar in den Räumen sieht zusammengestückelt aus. Hier scheint beim Einrichten das Geld ausgegangen zu sein. Die alten Tische zeigen Spuren des Lernens.

Tatsächlich ist das Projekt, das sich hauptsächlich über Zuwendungen nach dem Bundessozialhilfegesetz und Mitteln des Schulsenats finanziert, mit der Kürzung des Etats konfrontiert. Neue Teilnehmer können nicht mehr aufgenommen werden. Der Haushaltsplan mußte korrigiert und drei MitarbeiterInnen entlassen werden. Urlaubs- und Weihnachtsgeld wurde für alle ersatzlos gestrichen, die wöchentlichen Arbeitsstunden gesenkt. Das Sekretariat ist nicht mehr besetzt.

Das Telefon klingelt. Ein Teilnehmer entschuldigt sich. Er muß heute länger arbeiten. Viele der 127 TeilnehmerInnen im Alter von 20 bis 50 Jahren nehmen regelmäßig an den Kursen teil. Tagsüber arbeiten sie in der Fabrik, im Büro, in einer Behindertenwerkstatt. Oder sie arbeiten als Hausfrau/ mann und Mutter oder Vater, sind nicht erwerbstätig oder arbeitslos.

Der kleinste Kursraum hat knapp 13 Quadratmeter. Hier üben fünf TeilnehmerInnen die Lautverbindung „sp“. Schwierig, da in der gesprochenen Sprache das „sch“ ein wenig mitklingt. Bei Süddeutschen ein wenig mehr. Mühsam werden kleine Sätze gelesen und Laute zusammengezogen. „Nicht raten“, sagt die Kursleiterin und lacht. Sie wartet geduldig, sagt nicht vor.

„Doktorenschrift“, wie er es nennt, mag Andreas B. am liebsten. Groß und für andere nicht unbedingt entzifferbar. Gerne benutzt er auch die Schreibmaschine für seine Schreibexperimente. Bei anderen Teilnehmern sind die Buchstaben winzig bis zur Unkenntlichkeit.

Maria F. hat vor zwei Jahren mit dem Ziel angefangn, ihren Namen und ihre Adresse schreiben zu lernen. Die 38jährige Kolumbianerin lebt seit mehreren Jahren in Berlin und kann sich in deutscher Sprache gut verständigen, obwohl sie nie einen Sprachkurs besucht hat. Wie lange sie zur Schule gegangen ist, weiß die temperamentvolle Frau heute nicht mehr genau. „Vielleicht zwei oder drei Jahre“, sagt sie achselzuckend. Das ist typisch für viele TeilnehmerInnen des AOB. Da die Schulzeit negativ besetzt ist, fehlen oft die Erinnerungen. Mit der Einschulung ihrer Tochter sah Maria F. die Notwendigkeit, sich mit ihrer eigenen Alphabetisierung zu befassen. Inzwischen kann sie ihren Kindern schon kleine Nachrichten schreiben.

Die Gründe dafür, noch im Erwachsenenalter Lesen und Schreiben zu lernen, können unterschiedlich sein. Eins haben alle TeilnehmerInnen des AOB gemeinsam: Sie können sich dem Druck von außen nicht mehr entziehen und wollen ihren Problemen nicht mehr ausweichen. Für viele ist ihr Leidensdruck unerträglich geworden. Einige können ihr Problem auf der Arbeit nicht mehr verdecken. Andere sind beispielsweise durch eine Trennung oder Scheidung gezwungen, selbständig zu werden.

Draußen ist es inzwischen dunkel. Eine junge Frau gähnt. Immerhin ist sie schon seit 6 Uhr morgens auf den Beinen. Ihr Tischnachbar spricht das Wort „Tasse“. Während er den Vokal „a“ artikuliert, streicht er mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand über ein Gummiband, das er mit der linken Hand festhält. Seine Sprechbewegung steuert die Körperbewegung. Das abgemessene Stück vom Gummiband macht die Länge des Vokals sichtbar. Hans legt für jede Lautverbindung einen Papierstreifen auf den Tisch, einen sogenannten Lautstreifen. „Tasse“, fünf Buchstaben, vier Laute – also vier weiße Papierstreifen. Richtig?

Rund ein Drittel der Teilnehmerinnen kommt aus der ehemaligen DDR. Einige haben nur ein oder zwei Jahre eine Schule besucht. Danach wurden sie von der Schulpflicht befreit, „mit der Begründung, nicht bildungsfähig zu sein“, sagt Ute Jaehn-Niesert, Psychologin und eine der drei Geschäftsführerinnen des AOB. Offiziell wurde das Problem in der DDR verdrängt. Analphabeten hatte es im Sozialismus nicht zu geben. Nach der Wende hatte Paul M. große Probleme mit dem neuen Warenangebot. Er konnte die Aufschriften der unbekannten Verpackungen nicht entziffern. Die alten Markenzeichen hatten sich ihm von Kindheit an eingeprägt. Nun war er hilflos beim Einkauf. Er entschied sich für einen Alphabetisierungskurs.

Werner K. kann seinen Namen schreiben und keinen Buchstaben benennen. Das ist eher ungewöhnlich. Die meisten TeilnehmerInnen des AOB können ein bißchen lesen und kaum oder gar nicht schreiben.

Die Gründe für die Probleme beim Lesen und Schreiben sind vielfältig. „In der Regel ist es schon so, daß unsere Teilnehmer kein Elternhaus hatten, in dem man sich über Bildung Anerkennung verschaffen konnte“, erklärt Ute Jaehn-Niesert. Dazu kommen in vielen Fällen fehlende Diagnostik und mangelnde Förderung in der Schule. „Das Kind wird auf die Methode zurechtgezimmert und nicht die Methode auf das Kind“, stellt sie fest. „Unabdingbar für die pädagogische Arbeit ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Lehrgeschichte“, betont die Familientherapeutin. Fertige Konzepte für die Alphabetisierungsarbeit lehnt sie ab.

Ständig sucht das Team nach neuen Methoden, welche den Lernprozeß und die Selbständigkeit der TeilnehmerInnen unterstützen. Verstärkt fließen Elemente aus der Rhythmik in die Kursarbeit ein. Momentan beschäftigt sich das Projekt mit Möglichkeiten des Einsatzes computergestützter Lernmittel.

Alle Schreibversuche der TeilnehmerInnen werden im AOB als Texte ernstgenommen. Korrekturen mit Rotstift gibt es nicht. Oft tippt die Kursleiterin die Arbeiten nochmals in korrigierter Fassung ab. Jede/r kann dann sein Original mit der Vorlage vergleichen und nach eigenem Ermessen Veränderungen vornehmen. Es gibt auch Texte von TeilnehmerInnen, die noch nicht schreiben können. Sie diktieren, und stellvertretend für sie schreibt die Kursleiterin ihre Geschichten auf.

Freitagnachmittag trifft sich hier der Rechenkurs. „Verbraucher müssen rechnen können“, heißt das mit finanzieller Unterstützung der Verbraucherzentrale vom AOB im eigenen Verlag herausgegebene Rechenbuch. Kopfrechnen: Die Stimmung ist angespannt. Die Kursleiterin will keine schnellen Resultate. Vielmehr soll sich jede/r einzelne Klarheit darüber verschaffen, wie er zu seiner Lösung gekommen ist. Anne zählt mit den Fingern ab. Zwölf minus drei. „Zwölf, elf, zehn.“ Drei Finger, dreimal abgezählt. Zehn. Die Logik ist klar, das Ergebnis ist trotzdem falsch. Dennoch gibt es kein kritisches Wort durch die Kursleiterin. Fast nebenbei korrigiert diese den Denkfehler; gemeinsam wird die Hürde genommen.

„Ich finde es nicht schön, wenn Benachteiligten durch den Personalabbau nicht mehr richtig geholfen werden kann“, schrieb eine Teilnehmerin an den Senat. Die Stimmung im AOB ist angespannt. Auf der Warteliste stehen sechzig Personen. Momentan können aber keine Neuen mehr aufgenommen werden. Sie werden an die Volkshochschulen verwiesen. Dort gibt es Alphabetisierungskurse – allerdings ohne psychologische Begleitung.