: "Blavatzkys Kinder" - Teil 2 (Krimi)
Teil 2
Die ersten Fäuste trafen Lupian, Aurel und Usca ins Gesicht. Aurel verlor einen Zahn. Die drei Roma wehrten sich nicht, sie versuchten, dem Kampf auszuweichen. Schon von klein auf hatten ihre Eltern ihnen eingetrichtert, daß jede Prügelei ihre eigene Schuld war. In den Augen der anderen waren sie nur Zigeuner.
Ghetan nahm als erster seine Heugabel wieder in die Hand. Er stach auf Lupian ein. Eine Zinke traf seinen Hüftknochen. Was für ein Schmerz! Sein Bein brannte höllisch und hing wie ein Fremdkörper an ihm.
Ghetan griff wieder an. Lupian zog mit letzter Kraft das Messer aus dem Stiefel seines unverletzten Beins und stieß zu. Als Ghetan fiel und liegenblieb, hörten die beiden anderen Kampfpaare auf, miteinander zu ringen. Usca starrte auf den reglosen Mann, und Aurel kniete sich hin und fühlte seinen Puls. Tot.
Bevor sich die Söhne des Alten aus ihrer Erstarrung lösten, schleppten die beiden unverletzten Roma Lupian in ihr Haus. Sie verschlossen die alte Eichentür und verbarrikadierten sich. Was sollten sie tun? Man ließ ihnen keine Ruhe, sich zu beraten. Die zwei Angreifer hämmerten mit den Fäusten an die Tür.
Der Alte lief im Dorf herum und hetzte die Leute auf: „Die Zigeuner haben Ghetan ermordet. Tötet sie! Tötet sie!“
Wer schon von den Feldern zurück war, rannte herbei. Tot? Ghetan war der Sohn des Gastwirts. Alle wußten sofort, wer die Schuldigen waren. Jemand holte die Polizei. Darauf hatte man schon lange gewartet. Diese Zigeuner – alle Welt kannte doch das Pack.
Die schreiende und tobende Menge vor dem Haus wuchs. Wo waren die Mörder? Bewegte sich da oben nicht ein Schatten am Fenster? Ein Stein zertrümmerte die Scheibe. Die Tür würde den Äxten nicht mehr lange standhalten. Lupian lag auf einem Bett und schrie vor Schmerz und Angst. Zwei Polizeiwagen mit Sirenen hielten. Besser die als die Leute, dachte Usca. Die Schläge an der Tür wurden heftiger.
„Aufmachen! Hier ist die Polizei.“
„Sie haben uns angegriffen.“
„Das wird sich zeigen.“
„Rettet uns vor den Leuten!“
Usca drehte sich um.
Lupian stöhnte.
„Ja, ja.“
„Versprecht uns, daß ihr uns hier rausbringt!“
„Wir versprechen es.“
„Wir wollen, daß die Sache aufgeklärt wird. Gerechtigkeit, versteht ihr?“
„Oh, ihr bekommt Gerechtigkeit! Dafür sind wir da.“
Andere Roma versteckten sich hinter den Gardinen ihres Hauses. Vielleicht verschonte sie der Mob. Vielleicht verrauchte die Wut der Leute.
„Ihr kriegt eure Gerechtigkeit“, brüllte die Menge.
Lupian glitt bewußtlos vom Bett. Aurel sah Usca an. Usca nickte.
„Wir machen auf.“
„Gut“, sagte der Polizist vor der Tür.
Sechs Polizisten standen vor der Tür. Zwei weitere saßen in den Polizeiautos. Aurel und Usca streckten ihre Hände aus und ließen sich Handschellen anlegen. Lupian, betäubt von den Schmerzen und dem Blutverlust, stöhnte, als sie ihm die Handgelenke fesselten. Er freute sich beinahe auf ein Verhör. Wenn sie erzählten, wie sich alles abgespielt hatte, konnte ihnen nichts passieren. Es war doch Notwehr gewesen.
„Überlaßt sie uns!“ verlangte ein Mann. „Wir regeln das selbst.“
Hände zerrten an Usca, und er konnte Lupian nicht mehr stützen. Er verschwand zwischen den Beinen seiner Nachbarn. Keiner der Polizisten zog die Pistole für einen Warnschuß. Der angebliche Mörder wurde kaum beachtet. Er wehrte sich nicht einmal, als eine Frau mit einer Heugabel seinen Bauch durchbohrte. Die Menge trampelte über ihn hinweg, um das Sterben von Aurel und Usca mitanzusehen. Die rührten sich wenigstens noch. Usca schrie wie ein Tier. Fausthiebe und Knüppel, Stangen und Steine prasselten auf ihn nieder und brachen ihm die Knochen. Aurels Nacken knirschte schließlich unter den Stiefeln eines Mannes, der ihm Geld schuldete. Die Polizisten sahen zu. Die Dorfbewohner hatten noch nicht genug. War das nicht ein schönes Haus? Da würde bald kein Zigeuner mehr wohnen.
Soliza war neunzehn Jahre alt und arbeitete bis zum Sonnenuntergang auf dem Feld. Auf dem Heimweg sah sie ein großes Feuer. Mehrere Häuser brannten. Wo war die Feuerwehr? Sie lief schneller. Wer hatte das Dorf überfallen? Sie begegnete vielen Menschen, aber niemand trug einen Wassereimer in der Hand. Sie begriff schließlich, welche Häuser brannten und wer sie in Brand gesteckt hatte.
Fortsetzung folgt
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