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Weitermarschieren – oder sterben

Seit einer Woche werden 15.000 Bewohner Srebrenicas vermißt, nun kamen 4.000 in Tuzla an  ■ Von Erich Rathfelder

Sie sind verwundet, ausgezehrt und verängstigt, die Männer, die da im Lager von Tuzla in die Arme ihrer Freunde sinken. Doch sie haben es geschafft. Es sind die Männer aus Srebrenica, die gerade am Rande des Waldes aufgetaucht sind und jetzt geduckt über die Wiese laufen, auf das sichere Terrain. Eine Woche haben sie von der Schutzzone auf das bosnische Territorium gebraucht. Gierig trinken sie den süßen Tee und rauchen ihre erste Zigarette. Eine Woche lang hatten sie sich von Blättern, Quellwasser und wilden Äpfeln ernährt. Überglücklich sind sie, aber auch die Gesichter derer, die sich schon vor Tagen hierher retten konnten, strahlen, als sie die Ankömmlinge in die Arme schließen.

Nach über 100 Kilometern bei Tag und Nacht sind diese Männer jetzt in Sicherheit. 4.000 der rund 15.000 Männer aus Srebrenica, die seit Dienstag letzter Woche, seit dem Fall der Enklave, versucht haben, durch die serbisch-besetzten Gebiete zu brechen, haben es bisher geschafft. Eine Woche lang galten sie als vermißt, waren sie durch die Wälder gerirrt, Tausende sind dabei getötet worden. Viele starben nach Artillerieangriffen der serbischen Truppen, manche wurden bei der Gefangennahme ermordet, viele starben vor Erschöpfung, Hunderte nahmen sich selbst das Leben.

Gegen die serbischen Angriffe wehren konnten sich nur die wenigsten. Denn die schweren Waffen waren ihnen von der UNO schon vor Jahren abgenommen worden, schließlich galt die Zone als demilitarisiert. Behalten haben die Soldaten der bosnischen Armee aber ihre Gewehre. Ohne diese wäre es wohl niemand gelungen, bis nach Tuzla durchzukommen.

Hazim Hrustanović, Vahidin Ustić und Ahmed Ustić gehören zu denen, die überlebten. Vahidin und Ahmed sind verwundet, der eine an den Beinen, der andere am Hals. „Splitter von Geschossen von Flugabwehrkanonen.“ Mit diesen Waffen hatten die bosnischen Serben immer wieder den Flüchtlingszug beschossen. Immer wieder schlugen Artilleriegranaten ein, hinterließen Tote und Verletzte. „Wir schleppten die noch schwerer Verwundeten, so gut es ging. Manche starben dann. Nach einigen Tagen hast du dich nur selbst retten wollen“, sagen die beiden Verletzten.

Husan Hrustanović ist 38 Jahre alt. Er war einer der ersten, die in Tuzla ankamen. Schon seit dem Wochenende sitzt er in der Wohnung seiner Freunde. Er weiß nicht, was mit den Angehörigen ist, er ist traurig, ausgelaugt und kann sich kaum über seine Rettung freuen. Zuerst will er dem westlichen Reporter nichts erzählen. Zu tief sitzt die Enttäuschung über die unterlassene Hilfeleistung durch den Westen. „Ihr seid doch alle gleich.“ Freunde sitzen um den Tisch, stumm, etwas verlegen, einige der Frauen weinen. Eine Bekannte fragt ihn, ob er wisse, wo ihr Mann und ihre Brüder seien. Er weiß es nicht.

Dann fängt er doch zu reden an. Als der Fall Srebrenicas am Montag letzter Woche schon abzusehen war, als es klar war, daß der Vorstoß der serbischen Truppen in das Stadtzentrum nicht mehr aufgehalten werden konnte, bekamen die Männer den Befehl, sich dort am frühen Nachmittag zu versammeln. Die serbische Artillerie blieb zu dieser Stunde ruhig. Offenbar glaubten die Serben, daß sie mit Reaktionen der Nato rechnen müßten. „Erst als ab 17 Uhr nichts passierte und sie meinten, daß die Nato nicht mehr eingreifen würde, schossen sie wieder“, sagt Hasan. Auch bei den holländischen Blauhelmen habe es einen Toten und viele Verwundete gegeben. Deshalb machten sich die meisten Männer am Abend auf den Weg zum äußersten nordwestlichen Rand der Enklave, zu dem Dorf Buljim. Einige tausend Soldaten waren es und 10.000 Zivilisten, fast alles Männer, die fürchteten, daß die meisten ermordet würden, fielen sie in die Hände der Serben. „Immerhin hat ja der Generalstabschef der serbischen Armee, Momcilo Perisić, den Angriff der Tschetniktruppen auf Srebrenica persönlich geleitet.“ Und die berüchtigten Arkan-Truppen seien dabeigewesen, die schon 1992 zu den grausamsten Schlächtern gehört hatten.

Auch die beiden Cousins Vahidin (22) und Ahmed Ustić (20) waren auf dem Sammelplatz in Srebrenica und Buljim. Sie hatten noch zu Hause einen Liter Saft und ein halbes Kilo Brot ergattert. Ahmeds Mutter war schon nach Potočari zum nahen Hauptquartier der UN-Blauhelme geflüchtet, wohin die meisten Frauen gegangen waren. Jetzt sitzen sie gemeinsam an einem Tisch. In der Wohnung der Mutter Vahidins, die schon vor zwei Jahren nach Tuzla geflohen war. Sie sind froh. Die Familie ist wieder zusammen.

Am Dienstagmorgen ging es dann los, berichten die beiden, die Kolonne der Männer setzte sich in Bewegung, während andere Einheiten noch versuchten, den Serben in Srebrenica Widerstand zu leisten. Rund tausend Mann dieser Truppe soll es gelungen sein, in das ebenfalls von bosnischen Serben belagerte Žepa zu gelangen. Die Hauptkolonne der Männer, die nach Tuzla wollten, gelang es, die serbischen Stellungen zu durchbrechen. Danach war der Weg erst einmal frei. „Wir wußten alle, nur wer nach Tuzla gelangt, wird überleben.“

Zuerst war alles gutgegangen. „Wir hörten nur, daß am Ende der Kolonne Leute abgeschnitten wurden.“ Viele dieser Männer sollen verhaftet oder ermordet worden sein. Aber genau wüßten sie dies nicht. Eine Einheit versuchte, mit Stöcken den Weg nach Minen abzutasten. Dabei seien einige Männer gestorben, andere verletzt worden. Einige von den Verletzten hätten Selbstmord begangen, im Ganzen habe er gesehen, wie rund 50 Männer sich selbst töteten. Dann kam es zu den Überfällen mit Flugabwehrgeschützen. Vahidin wurde da verletzt. „Ich wußte nur, ich will durchkommen“. Ahmed Ustić ballt die Faust. „Wieder gab es Tote.“

Es gelang dem Gros der Fliehenden, am Mittwoch bis nach dem Dorf Konjevic Polje zu gelangen. Dort jedoch hatten die Serben einen Hinterhalt aufgebaut. Wiederum wurde mit Artillerie und Flugabwehrgeschützen auf die Menge geschossen. „Rund hundert Tote lagen an den Straßenrändern“, berichtet Ahmed. Der Zug der Fliehenden war jedoch nicht aufzuhalten. „Wir brachen durch. Auch die Tschetniks haben Leute verloren.“ Ahmeds Freunde und Mitglieder seiner Rockband starben vermutlich hier, die Musiker Samir Bove, Sakiv Melhović und Enes Delić. Und sie sahen aus der Ferne, wie Tschetniks verwundete Kameraden erschossen. „Es waren bosnische Serben, sie haben die Verwundeten erschossen.“

In Koljevic Polje wurde die Kolonne erneut geteilt. Wiederum gelang es den Serben, den hinteren Teil der Kolonne abzutrennen. Rund 1.000 Fliehende, so schätzen alle drei, seien hier umgekommen. „Zum ersten Mal machte das Wort vom Todesmarsch die Runde.“ Es war heiß, es gab nichts mehr zu trinken.

Hier gelang es Hasan, sich von dem Gros des Zuges abzusetzen, mit einer kleineren Gruppe konnte er schneller als die anderen nach Tuzla kommen. Ahmed und Vahidin jedoch blieben in der ersten großen Gruppe. Sie bewegten sich von nun an in den Wäldern. Ahmed weiß über die nächsten Tage nur zu berichten: „Es war heiß, wir tranken aus den Bächen. Feindberührung hatten wir bis Freitag nicht, einige Stunden konnten wir so schlafen. Wir versuchten, die Verwundeten zu versorgen.“

An dem Fluß Jadar kam es zu einem erneuten Überfall. Wieder starben viele Leute, ein anderer Freund Ahmeds ließ hier sein Leben. „Begraben konnte ich ihn nicht.“ In der Nacht kam es zu einem großen Kampf. „Uns gelang es, durchzubrechen und Tschetniktruppen in einen Hinterhalt zu locken.“ Dabei seien bei dem Dorf Punika mindestens 20 Serben getötet worden. „Wir haben Waffen erbeutet. Unter den Gefangenen war ein Hauptmann aus Serbien, aus Modrica“, erzählt Vahidin. Nach diesem kleinen Sieg hätten sie etwas schlafen können.

Medikamente für die Verwundeten habe es nicht gegeben. „Viele der Kameraden haben sich umgebracht, eine Handgranate in den Mund und fertig.“ Sie wollten den fliehenden Zivilisten und Soldaten nicht zur Last fallen. „Es waren 14jährige darunter und 70jährige. Es war fürchterlich“, sagt Ahmed.

Am Samstag und Sonntag schließlich seien sie gut vorwärts gekommen. Zwar hätten die serbischen Truppen immer wieder Artilleriesalven auf die Fliehenden abgegeben, der Wald jedoch bot relativen Schutz. Am Sonntag hätte ein Hagelschauer ihnen Rettung gebracht, den Serben war die Sicht verdeckt. „Für den Abend entschlossen wir uns, die Stellungen der Serben nahe Bajkovica anzugreifen.“ Der Angriff gelang, drei Panzer wurden erbeutet, ein Munitions- und Waffenlager des Gegners ausgeräumt. Dann schafften sie in der Nacht den Durchbruch ins Gebiet von Tuzla.

Die Wunden von Ahmed und Vahidin wurden inzwischen im Hospital versorgt. Ihre Mütter und ihre Geschwister konnten sie in dem riesigen Flüchtlingslager wiederfinden. Auch der Vater Ahmeds soll durchgekommen sein. Sie wissen jedoch noch nicht, wo er sich in Tuzla aufhält.

„15.000 sind losgezogen, 3.000 oder vielleicht schon 4.000 angekommen. Die anderen kämpfen sich noch durch die Wälder oder sind von den Serben gefangengenommen, vielleicht ermordet worden.“ Ahmed und Vahidin senken ihre Köpfe. Es ist still im Raum. Für Tausende von Männern aus Srebrenica ist der Todesmarsch auch heute noch nicht zu Ende.

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